Begrüßung Ludwig T. Heuss
Ludwig Theodor Heuss, Vorsitzender der Theodor Heuss Stiftung
Sehr geehrte Preisträger,
Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin,
Meine sehr geehrten Damen und Herren
Es ist mir eine große Freude, Sie heute zu dieser besonderen 55. Verleihung des Theodor Heuss Preises hier in Stuttgart begrüßen zu dürfen. Wir wahren Abstand und tragen Maske, doch das Thema geht uns nahe – und ich möchte fast sagen: durch die aufgezwungene Verschiebung auf Ende September sind wir ihm auch terminlich noch nähergekommen: «Nach 30 Jahren: wie schafft Demokratie Einheit in Vielfalt?»
Meine Damen und Herren, unser menschliches Gehirn ist so programmiert, dass wir uns an bestimmte, sehr emotionale Ereignisse genau erinnern können. Jeder hier wird noch exakt wissen, wo man war, was man tat, am 9. September 2001, als der Terroranschlag auf das World Trade Center verübt wurde.
Einige von uns erinnern sich gewiss auch an den 9. November 1989, als die Mauer fiel.
Und an den 3. Oktober 1990? Ich erinnere mich auch an den sehr gut. Das sollte der Tag sein, an dem die deutsche Einheit vollendet wurde, für mich bis damals das wohl wichtigste historische Ereignis in meinem bisherigen Leben. Darauf fieberte ich durchaus hin. Das wollten wir feiern. Familie und einige Freunde, die wir alle in Basel, in der Schweiz, lebten, machten uns am Abend des 2. Oktober 1990 auf, über die Grenze, nach Lörrach, um dort mit den Menschen zu feiern, sich zu freuen, sich zu umarmen. Sekt hatten wir auch mitgenommen. Ja ich erinnere mich noch lebhaft, wie wir dort ankamen und die glücklichen Menschenmassen suchten, das Feuerwerk. Nichts. Nicht einmal eine Blaskapelle. Am Schluss standen wir etwas betreten auf dem dunklen Marktplatz, als die Stadtkirche Mitternacht schlug, prosteten uns verstohlen zu und machten uns auf den Heimweg. Irgendwo lief ein Fernseher, da guckte einer eine Aufzeichnung vom letzten «Tatort». So habe ich den Moment der Einheit erlebt.
Nun mag man argumentieren Lörrach sei eben die Gemeinde Deutschlands, die am weitesten vom politischen Zentrum Berlins entfernten ist, das erwähnt man in der Ecke durchaus gelegentlich mit einem gewissen Stolz, – aber so wenig Emotion an einem solchen Tag, der das Leben von Millionen Menschen verändern sollte? Das blieb mir von dem Augenblick an bewusst: es würde noch ein weiter Weg zur «Einheit in Vielfalt» werden. In jener Zeit, in der Michael Schindhelm seiner Tischnachbarin in der Akademie der Wissenschaften Angela Merkel ein Buch widmete mit den inspirierenden Worten: «Gehe ins Offene», ging in anderen Teilen der Republik alles weiterhin seinen gewohnten Gang.
Ja, meine Damen und Herren, das war die Ausgangslage vor dreißig Jahren und die Diskussionen, die wir in der Vorbereitung der heutigen Veranstaltung in unseren Gremien geführt haben, die Diskussionen und Gewichtungen, manche aufbrechenden Empfindlichkeiten und Missverständnisse, – das alles hat uns vor Augen geführt, wie sensibel der Umgang mit und der Blick auf die gemeinsame Vergangenheit, den Einigungsprozess in unserem Land immer noch ist. Nicht alle gingen, oder konnten so frei «ins Offene» gehen, für manche endete der Schritt ins Ungewisse auch im Irrtum, oder im Abgrund. Aber «Einheit in Vielfalt» hat auch eine westliche Perspektive: auch in Stuttgart, sogar in Lörrach, hat sich die in den vergangenen dreißig Jahren eine vielgestaltige, vielfältige Veränderung der Gesellschaft manifestiert.
Meine Damen und Herren, die Suche nach Identität, nach Selbstverständnis und Selbstvergewisserung begleitet uns im 21. Jahrhundert genauso, wie in den vorherigen. Und gerade weil dieses Thema so nahe geht, ist der künstlerische Ansatz so wichtig. 2014 haben wir in diesem Raum den vor vier Monaten verstorbenen Künstler Christo geehrt. «Kunst bricht auf» lautete damals das Motto und ja, zu recht weist Rupprecht Podszun in seinen einfühlsamen Portraits der diesjährigen Preisträger darauf hin, dass auch in Andreas Dresens Filmen etwas aufbricht, zum Aufbruch aufruft – «ganz besonders, wenn es um die deutsch-deutschen Verhältnisse und Befindlichkeiten geht.»
Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie mit mir, den diesjährigen Träger des Theodor Heuss Preises, den Filmregisseur Andreas Dresen,
Ich begrüße die Empfänger der Theodor Heuss Medaillen
– die Initiative «Perspektive hoch 3 e.V. – Dritte Generation Ostdeutschland», als deren Vertreter Dörte Grimm, Amanda Groschke, Johannes Staemmler und Elisa Gutsche heute unter uns sind.
– den ehemaligen Schüler und Aktivisten Jakob Springfeld aus Zwickau
– und den Dichter, Therapeuten und Bürgermeister a.D. Bernhard Winter aus Markt Schwaben.
Was es mit der Initiative und den Personen auf sich hat, werden wir im Verlauf des Tages noch hören.
ich begrüße den Fimlkritiker und Moderator Knut Elstermann, und ich danke Ihnen sehr, dass Sie die Laudatio auf unseren heutigen Preisträger übernommen haben
Ich begrüße die Mitglieder von Vorstand und Kuratorium der Theodor Heuss-Stiftung, die -wie immer- aktiv in die Veranstaltung eingebunden sind, zuvorderst unsere Kuratoriumsvorsitzende Gesine Schwan, die später auch ein Gespräch mit Andreas Dresen führen wird und Rupprecht Podszun, der ein Gespräch mit den Medaillenempfängern moderieren wird. Herzlichen Dank!
Ich begrüße die Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg, Frau Muhterem Aras, sehr herzlich – ich weiss die Verbundenheit, die Sie unserer kleinen Stiftung entgegen bringen sehr zu schätzen.
Ich begrüße als Vertreter der Landesregierung Frau Staatssekretärin Petra Olschowski und Herrn Ministerialdirigent Florian Hassler und als Vertreterin der Stadt Stuttgart Frau Bürgermeisterin Isabel Fezer, – beide sind ja auch im Vorstand, aber das gibt doch auch nochmals Anlass darauf hinzuweisen, wie wichtig uns in unserer Arbeit die breit abgestützte Überparteilichkeit ist.
Eine Überparteilichkeit in bester liberaler Tradition und darum grüße ich stellvertretend für viele Peter Eigen (auch als ehemaligen Preisträger), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (als stellvertretende Vorsitzende), Michael Theurer und Klaus von Trotha (als Mitglieder des Kuratoriums).
Andere ehemalige Kuratoriumsmitglieder haben wir im vergangenen Jahr leider verloren. Ich gedenke in großer Dankbarkeit an unser langjähriges Vorstandsmitglied und Unterstützer der ersten Stunden Hans-Jochen Vogel und ich gedenke an unseren langjährigen treuen Unterstützer Armin Knauer.
Ich grüße die Vertreter des Landtages, des Gemeinderates der Stadt Stuttgart (wir haben zwei Fraktionsvorsitzende unter uns) und ich grüße die Vertreter von befreundeten Stiftungen und zwei Förderer, die ich gerne namentlich erwähnen möchte: Heinz Gerstlauer, von der Lechler-Stiftung und Anette und Timo Rögelein.
Ich grüße die Vertreter der Presse – und freue mich auf eine schöne Berichterstattung – und, ganz besonders – das wichtigste zum Schluss: ich sprach ja schon von der Bedeutung der Kultur: seien uns die Vertreter von Kulturstiftungen, Galerien, Staatsoper herzlich willkommen und natürlich ganz besonders Sebastian Krumbiegel. Was für ein Privileg, dass Sie die künstlerische Umrahmung übernommen haben.
Herzlich Willkommen und auf ein gutes Gelingen!
Grußwort Bürgermeisterin Isabel Fezer
Isabel Fezer
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Namen der Landeshauptstadt Stuttgart heiße ich Sie herzlich willkommen. Diesen Satz habe ich zuletzt vor sieben Monaten so sagen dürfen; er funktioniert bei Videokonferenzen nicht so richtig. Es ist kein Wunder, dass es nun die der Demokratie verpflichtete Theodor Heuss Stiftung ist, die es möglich macht, dass hier im Raum 160 Menschen zusammen kommen und viele mehr über das Internet beteiligt sind. Denn demokratische Prozesse setzen den öffentlichen Diskurs, das Teilen von Erfahrungen und Erkenntnissen, das Erleben von Vorbildern voraus. Und genau darum geht es bei der Preisverleihung der Theodor Heuss Stiftung, jedes Jahr, und – wie ich meine -, in diesem Jahr ganz besonders.
Wie schafft Demokratie Einheit in Vielfalt? eine Frage, die wir uns in der Stiftung mit Blick auf das 30jährige Einheitsjubiläum von Ost- und Westdeutschland gestellt haben.
Eine Frage, deren Relevanz aber auch in Bezug auf andere politische und gesellschaftliche Entwicklungen aktueller denn je ist. Unsere Gegenwart ist von auseinanderdriftenden Kräften geprägt. Die USA, deren Bevölkerung tief gespalten ist, ziehen sich zurück aus Staatenbündnissen und daraus folgenden Verpflichtungen, die für den Erhalt der Erde, Menschheit und Natur überlebensnotwendig sind und sie schaffen Raum für neue geopolitische Risiken – ich denke an den Nahen Osten, an das Auftrumpfen der Türkei, an die Aggression Chinas gegenüber Taiwan – um nur einige zu nennen.
Und natürlich kämpfen auch in Europa die Mitgliedstaaten mit dem Phänomen des Sich-voneinander-Entfernens. Das Vereinigte Königreich hat die Zugbrücken längst hochgezogen und die restlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ringen um gemeinsame Grundwerte ohne realistische Aussicht auf eine Einigung.
Was es heißt, wenn eine Gesellschaft gespalten ist, wissen wir in Deutschland natürlich auch ganz gut, in Stuttgart allemal. Der Streit um den Stuttgarter Hauptbahnhof hob vor über 10 Jahren den Wutbürger aus der Taufe und führte zu einem Riss durch die Stadtgesellschaft, der nicht nur zwischen den Parteien, sondern bis hinein in die Familien verlief. Streiten tun wir auch anderswo in Deutschland, über Europa, über Flüchtlinge, über die Umwelt, über gesellschaftliche Vielfalt, über political correctness, natürlich über Corona und ja, auch über das Verhältnis zwischen Ost und West. Sorge macht mir dabei nicht der Streit.
Für die Weiterentwicklung einer demokratischen Gesellschaft ist er überlebenswichtig. Sorge macht mir das Selbstverständnis der Streitenden auf beiden Seiten der Gefechtslinien. Eigene Überzeugungen werden mit geradezu religiösem Eifer verteidigt und wer diese nicht teilt, ist nicht einfach anderer Ansicht, sondern wird der Häresie bezichtigt.
Solch ein Streit sucht nicht den diskursiven Austausch mit dem Gegner, – der auch Nähe bedingt -, sondern zielt von vornherein auf Entfremdung aus. Und hier setzen unser diesjähriger Preisträger und unsere Medaillenträgerinnen und –träger an: Sie gebieten der Entfremdung Einhalt, sie machen Menschen und ihre Überzeugungen sichtbar, nah, wahrnehmbar und öffnen damit Türen für einen demokratischen Verständigungsprozess, der gegenseitigen Respekt voraussetzt.
Andreas Dresen öffnet uns die Augen und die Seele für ostdeutsche Schicksale in ihrer Vielschichtigkeit, Ambivalenz und Menschlichkeit. Die Initiative Perspektive hoch 3 bezieht sich auf die Erfahrungen ostdeutscher Menschen als Input für innerdeutsche demokratische Prozesse.
Jakob Springfeld hält die Erinnerung an Opfer rechtsextremistischer Gewalttaten wach und geht auch sonst keinem demokratischen Diskurs aus dem Weg. Und Bernhard Winter schafft Raum für tiefgründige öffentlich geführte Auseinandersetzungen zwischen ganz unterschiedlichen Menschen.
Unsere Preis- und Medaillenträger feiern die Vielfalt und verhelfen uns zugleich zu Respekt und Interesse für andere Überzeugungen, Lebensentwürfe und politische Haltungen. Nur so kann Demokratie gelingen und nur so können wir die Einheit in unserem Land leben.
Lassen wir uns von diesen Menschen anstecken!
Laudatio auf Andreas Dresen
Knut Elstermann
Nur wenige Regisseurinnen und Regisseure haben es in Deutschland geschafft, ihr eigenes Markenzeichen zu werden. Wenn ich die Namen Wim Wenders, Tom Tykwer oder Margarethe von Trotta nenne, haben Sie sofort eine ungefähre Vorstellung von Färbung, Stil und Tonlage ihrer Filme.
Ohne, dass er es je angestrebt hätte, ist auch Andreas Dresen zu einem Klassiker des deutschen Kinos geworden. Das Wort Klassiker lässt zurückschrecken, ich weiß, doch ich meine das nicht als erstarrte Pose, sondern ganz wörtlich als etwas Normsetzendes, Vorbildliches. Junge Leute, die mir ihre Filmprojekte schildern, sagen manchmal, um die Sache abzukürzen, sie wollten so etwas machen in der Art von Andreas Dresen – dann wissen wir alle sofort, was gemeint ist.
Dabei ging Dresen nie den leichten Weg. Er hätte sich sehr schnell als der Regisseur des Ostens etablieren, eine Marktlücke besetzen können. Genau das wollte er nicht und er hat Filmprojekte stets abgelehnt, wenn sie ihm zu vordergründig einen folkloristischen Ostblick bedienten. Gerade weil er sich der vorschnellen Zuschreibung entzog, jeder landsmannschaftlichen Kungelei, wurde er aus seinen Erfahrungen heraus, durch seinen unbestechlichen Blick, durch seine künstlerische Meisterschaft, durch seine Aufrichtigkeit doch zu einer der wenigen, wichtigen, ostdeutschen Stimmen, die in diesem Land zu vernehmen sind. Dir selbst mag so eine Bezeichnung gar nicht besonders gefallen, denn zurecht sagst Du immer, wer bezeichnet Tom Tykwer als westdeutschen Regisseur?
Doch Du weißt, ich finde, so lange sich kaum Ostdeutsche finden in Intendanzen, Botschaften, DAX-Vorständen, Chefredaktionen, Universitätsleitungen, Generalstäben, Gewerkschaftsführungen, Museumsdirektionen usw., solange der Osten immer noch als irgendwie merkwürdiger, vielleicht sogar als störender Sonderfall betrachtet wird, so lange wird es nötig sein, der Zurücksetzung solche authentischen Stimmen aus dem Osten entgegenzuhalten. Stimmen wie Deine – unaufgeregt, selbstbewusst, gesprächsbereit. Gerade weil Du so genau hinsiehst und so menschlich erzählst, wie wir die tiefen Umbrüche in Magdeburg, Frankfurt an der Oder und Hoyerswerda erlebten, wirst Du auch in Wiesbaden und Hamburg so gut verstanden. In Stuttgart offenbar auch. Wenn Du diese Geschichten nicht erzählst, wer dann?
Nehmen wir nur auf Deinen jüngsten Film: „Gundermann“.
Gundi Gundermann, der Liedermacher aus dem Osten, war ein ebenso origineller wie widersprüchlicher Künstler. Im Tagebau arbeitend, baggerte er die Natur ab, deren Zerstörung er in seinen Liedern beklagte. Der überzeugte Sozialist flog aus der Partei, spitzelte für die Stasi und wurde selbst überwacht. Andreas Dresens Film stellt den viel zu früh gestorbenen Rockpoeten auf keinen Sockel, sondern setzt ihn von Anfang an seiner zwiespältigen Vergangenheit aus. Der einfühlsame, überaus sorgfältig inszenierte Film beschönigt und verkleinert nichts, arbeitet aber sehr genau und differenziert heraus, wie Haltungen entstehen und ausgenutzt werden. Kein Fan-Biopic und keine simple Täter-Opfer-Gegenüberstellung, sondern ein kluger und bewegender Musikfilm über ein gelebtes Leben mit all seinen Idealen, Verstrickungen, dem Verrat und den Enttäuschungen. Es wurde höchste Zeit für solche Filme über die DDR und es war ein sehr langer Weg dorthin, den Du mit unendlicher Geduld – fast zehn Jahre lang – gegangen bist, während ich offen gestanden nicht mehr daran glaubte, dass es Gundermann im Kino je geben würde. (Mittwoch im Ersten. 20.15 )
Ich wage die Behauptung, dass Dein Film „Gundermann“, nach dem großartigen Drehbuch von Laila Stiehler, viel für die deutsche Einheit geleistet hat, was allein schon diesen Preis rechtfertigen würde. Bei Gesprächen und in Briefen aus dem Westen Deutschlands haben Zuschauerinnen und Zuschauer Dir gesagt, dass sie durch den Film vielleicht zum ersten Mal intensiver über das Leben hinter der Mauer nachgedacht haben, über einen Alltag, der sehr viel mehr war als die übliche, leitartikelhafte Beschränkung auf Opportunismus und Widerstand.
Andreas Dresen ist Sohn der Theaterschauspielerin Barbara Bachmann, und der Theaterregie-Legende Adolf Dresen, von dessen Berliner Inszenierungen Zuschauerinnen noch heute schwärmen, Ziehsohn des nicht weniger legendären Theatermannes Christoph Schroth. Dass er sich dem großen Erbe dieser Theaterfamilie stellte und zugleich entzog, dass er zunächst ganz auf den Film setzte, spricht für das Wesen eines sanften Rebellen, der nichts über den Haufen wirft.
Super-Acht-Filme entstanden, etwa eine Reportage des 14-jährigen über ein Konzert der beliebten Band Karat in Dresens damaliger Heimatstadt Schwerin. Der Junge interviewte sogar den Sänger Herbert Dreilich, und fragte, ob dieser die allgemein schlechten Kritiken des neuen Albums teile, was der Star, erstaunlich freundlich, verständlicherweise verneinte. Dieses frühe, bohrende Werk müsste übrigens in jeder Dresen-Retrospektive laufen. Irgendwie ist er doch noch immer dieser begeisterte Junge, dem ein herrliches Instrument in die Hand gegeben wurde, mit dem man Menschen erreichen, bewegen und berühren kann.
Dresen wurde an der Filmhochschule „Konrad Wolf“ in Babelsberg dafür ausgebildet, in der DDR Filme bei der DEFA zu machen. Als er mit dieser Ausbildung fertig war, am Ende als Meisterschüler des leider kaum noch bekannten Regisseurs Günther Reisch, gab es weder die DDR noch die DEFA.
Auch hier trat er ein Erbe an, fühlt sich den besten Traditionen des DEFA – und des osteuropäischen Films, vor allem des sowjetischen, tief verbunden – etwa dem poetischen Realismus eines Wassili Schuschkin. Zugleich entdeckte Dresen seine Themen und Geschichten vor der eigenen Haustür und fand sich schnell und sehr professionell zurecht unter den völlig neuen Produktionsbedingungen.
Schon in seinem ersten Kinofilm „Stilles Land“ (VoD) haben wir den ganzen Dresen: das Unheroische, auch Komische der Zeitenwende, das Menschlich- Konkrete im Abstraktum der Geschichte. Mir sagt dieser schöne Film von 1992 noch heute mehr über die DDR, darüber wie wir gelebt haben, über die täglichen Kompromisse, den kleinen und den großen Mut, als die meisten der pathetischen Wende-Epen. Nach allem, was ich über Theodor Heuss weiß, denke ich mir, dass ihm diese Haltung gefallen hätte, diese Privatheit im Politischen.
Ich scheue mich nämlich etwas, Andreas Dresen einen politischen Filmemacher zu nennen, obschon er fraglos einer der politischsten Menschen ist, den ich kenne. Doch die Inspirationen all seiner Filme sind immer die Menschen und ihre Geschichten, ihre Leiden, Sehnsüchte und Träume. Ihn interessieren seine Figuren, die sich ganz selbstverständlich in der sozialen Welt bewegen. Dresen verfilmt keine politische Ideen, er erzählt Geschichten von Menschen, die ob sie wollen oder nicht politische Wesen sind.
In „Nachtgestalten“ von 1999, der wirklich fast nur nachts gedreht wurde, sieht er auf die Menschen am Rande, die Ausgegrenzte und Ausgestoßenen. Es war der größte Triumph für den gerade gestorbenen, wunderbaren Michael Gwisdek, der anrührend einen Helfer wider Willen spielte und dafür den Silbernen Bären der Berlinale erhielt. Dresen wagte hier einen Neu-Beginn, dessen Frische diesen zweiten Kinofilm nach den vielen Jahren gründlicher Fernseharbeiten prägte – darunter das hochaktuelle, raue Meisterwerk „Die Polizistin“ über gnadenloses Mobbing gegen eine junge Beamtin.
Heiter und gelöst warf Andreas Dresen für „Halbe Treppe“ 2002 allen Ballast ab, angelte selbst den Ton als Teil des winzigen Teams im Frankfurter Oder-Turm und sah fasziniert zu, was seine Schauspieler im magischen Augenblick der Improvisation gerade erfinden.
Die schwierige Methode der Improvisation, die den Schauspielern auf demokratische Weise Mitsprache und Verantwortung zutraut, hat Dresen in „Wolke 9“ , diesem tabubrechenden Film über Liebe und Sexualität im Alter und in „Halt auf freier Strecke“ über eine tödliche Krebserkrankung immer weiter verfeinert. Wie geht das nur, dachte ich gerade bei diesem Film, dass ich alle Beteiligten gut kenne, dass ich weiß, es geht dem prachtvollen Hauptdarsteller Milan Peschel sehr gut, ich weiß auch, dass Andreas bei der Sterbeszene irgendwo hinter der Kamera steht und dass ich dennoch so traurig bin, als müsste ich morgen tatsächlich zur Beerdigung des Filmhelden? Verzauberung durch die große Kunst von Andreas, das ist ein unerklärlicher, nicht aufzulösender Rest, der bleibt.
Ich kenne wohl kein anderes filmisches Werk und keinen Regisseur besser als ihn, habe das wachsen und reifen gesehen, was längst in ganz Deutschland und im Ausland berühmt ist. Es ist sein Blick, der genau erfasst, was wir sonst höchstens aus dem Augenwinkel wahrnehmen, Alter, Krankheit und Vergänglichkeit, und all die kostbaren, kleinen, absurden, witzigen, schmerzenden Augenblicke der Alltäglichkeit, die Leben ausmachen. Man sagt das immer so leicht: Andreas Dresen liebt alle seine Figuren und vielleicht ist das Unsinn, denn niemand kann alle Menschen lieben. Aber es ist eben doch immer eine Haltung erkennbar, die niemanden, auch nicht im größten Unglück und in der schwersten Verfehlung, allein lässt. So ist es übrigens auch im wirklichen Leben, man fühlt sich in Deiner Nähe immer wahrgenommen und gut aufgehoben.
Es gibt den Menschenfreund Andreas Dresen, den nüchternen und den mitfühlenden Beobachter, den harte Arbeiter Andreas Dresen, der ausgelassenen bis in den Morgen feiern kann, den Melancholiker und Grübler, und es gibt den Freimütigen, den Bekennenden, den Auskunftsfreudigen.
Die Mitarbeiter tauchen tief in seine Projekte eintauchen, an denen sie mündig daran arbeiten. Weggefährten könnten in jeder Talkshow profund Auskunft über Deine Filme geben, denn niemand von ihnen hat dabei nur einen Job ausgeübt, jeder war und ist ein vollwertiges, hingebungsvolles Mitglied der Familie. Eine Familie, in der nicht nur Feste gefeiert werden. Hier erleben wir den Andreas Dresen der zähen Unerbittlichkeit, der von jedem alles verlangt, der immer genau weiß, was er will, der gern aufnimmt, was andere einbringen, der besessen arbeitet und doch nie recht zufrieden ist. „Lass es gut sein, Andreas, man sieht es im Film doch nicht“, rufen entnervte Kollegen dem Detailversessenen dann manchmal zu. „Man sieht es eben doch“, entgegnet er.
Steffi Kühnert, Axel Prahl, Thorsten Merten, Milan Peschel, Horst Westphal, Ursula Werner, Andreas Schmidt, Inka Friedrich, Nadja Uhl, Gabriela-Maria Schmeide und viele andere, selbst jene Darsteller, die bisher nur einmal mit ihm gearbeitet haben, sind unverwechselbare Dresen-Schauspielerin, Bewohner seines Universums, in dem es im Grunde genauso zugeht wie bei Ihnen und bei mir zu Hause, nur dass dort ein Gesetz unverhandelbar herrscht: das der absoluten Wahrhaftigkeit. Selbst in der artifiziellsten Kunstform, auf der Opernbühne, wo sich die Leute seltsamerweise ansingen, herrscht bei Dir, etwa in Deinem berührenden Figaro, im Potsdamer Schlosstheater im Neuen Palais, die Kunst der glaubhaften Menschengestaltung, da leuchten die Charaktere plötzlich auf – der triebgesteuerte Graf, die traurige Gräfin, die kluge Susanne, der treuherzige Figaro, auch sie sind jetzt typische Dresen-Gestalten. Er ist ja auch zum Theater, zur Bühne gegangen, auch wieder ein Erbe.
Wer hätte es je für möglich gehalten, dass auch ein Politiker, zumal von der CDU einst zu diesem Universum gehören würde! Der Herr Wichmann. Ein überaus engagierter Mann, der Andreas in vielem sehr ähnlich ist. Beide sind vollkommen unfähig, sich Zumutungen zu entziehen, beide haben ein Verantwortungsgefühl, das manchmal an Selbstzerstörung grenzt, beide verbindet die Sehnsucht nach Gemeinschaft, und damit meine ich nicht unbedingt ein Parteibuch, beide schauen grundehrlich auf die eigenen Schwächen, Niederlagen, auf das Scheitern.
In zwei dokumentarischen Arbeiten schildert Dresen den Wahlkampf und die Arbeit auf Kreis- und Landesebene, denn auf beiden Feldern war der überaus fleißige Wichmann zeitweise zugleich engagiert. Sehr klug entschied Dresen sich für das Mitglied einer Partei, die ihm nicht sehr nahe ist, denn es geht in diesen Filmen absolut nicht um Parteienpolitik, sondern um das Porträt eines Mannes, der ohne doppelten Boden agiert, der wirklich das Beste will, ein positives Gegenbild zur Politikverdrossenheit, dieses schleichenden Gifts der Demokratie.
Diese beiden, auch im Kino sehr erfolgreichen Dokumentarfilme machen Politik durchsichtig, die Mühen der Ebene, den täglichen Kleinkram, das enorme Arbeitspensum, mit einem feinen, nie verletzenden Humor, der den jungen, manchmal noch sehr komisch-unbeholfenen Mann nicht vorführt.
Kurioser Nebeneffekt: Wichmann ist heute – Dank Dresen – einer der bekanntesten Politiker Brandenburgs. Jetzt wieder in der Lokalpolitik, dritter Teil ist fällig.
Ich bedaure es übrigens zutiefst, dass Du bei Deinen vielen, aufwändigen Spielfilmprojekten nicht öfter zum dokumentarischen Erzählen kommst.
Ich könnte mir vorstellen, dass es nicht zuletzt diese Filme waren, die zu Deiner Berufung als Verfassungsrichter geführt haben. Eine hochmoralische Arbeit, das künstlerische Gewissen fließt hier in Gesetzesform ein, dazu kommt der Einsatz für Geflüchtete, die Professur in Rostock – das Pensum ist unglaublich, die Energie wohl unbegrenzt.
Es gibt aber auch den zögerlichen Andreas Dresen, der im Grunde ein bekennend ängstlicher Mensch ist – und das erweist sich immer wieder als seine größte Stärke. Jedes Experiment, jede Improvisation, jeder mutige neue Schritt auf unbekanntes Gebiet, jede Reise ins Ungesicherte ist den eigenen Bedenken abgerungen. Andreas Dresen ist ein Radikaler der Besonnenheit, der nie über seine Figuren oder sein Publikum hinausschießt. Nach der Premiere erwartet er zunächst keine langen Debatten, keine Analysen, sondern schlicht eine Antwort auf seine sehr ehrlich gemeinte Frage: „War es nicht langweilig?“. Jeder Künstler entlässt seine Werke vollständig in die Welt, wo sie ein Eigenleben führen. Ich weiß gar nicht, ob Dir bewusst ist, wie viel uns Deine Filme bedeuten, wie sehr sie für uns Teil unserer eigenen Identität, unserer eigenen Geschichte geworden sind. Etwas, das sich in keiner Weise in Zuschauerzahlen oder Umsätzen ausdrücken lässt.
Brecht, Sie merken am Klassiker-Zitat, ich komme zum Ende, sprach so schön von der Freundlichkeit der Welt. Er meinte damit ganz sicher keine Idylle, sondern eine Welt, die gut für uns ist. Erlaube mir, dass ich es an einem solchen Tag einer so ehrenvollen und hochverdienter Auszeichnung mit ganz un-brechtischer Gefühlsaufwallung sage: Andreas, die Welt ist etwas freundlicher, weil es Dich gibt.