Es war eine vieldeutige Szene: Am Morgen des 4. Juli 2018 erschien Malgorzata Gersdorf mit einer weißen Rose in der Hand, dem Symbol der Unschuld wie der Trauer, vor dem modernen Glasbau des Obersten Gerichts Polens am Warschauer Krasinski-Platz. Zugleich hatte sie ihr offizielles Habit angelegt, die schwarze Robe einer Richterin. Eine beachtliche Menschenmenge, die auf diese Frau bereits gewartet hatte, begrüßte sie mit lauten Bravo-Rufen und langem Beifall.
Eigentlich hätte die so Umjubelte das mächtige Justizgebäude nicht mehr betreten dürfen. Zwar war sie dort viele Jahre fast täglich ein- und ausgegangen, zuletzt sogar als Präsidentin dieses Gerichts. Aber mit einem neuen Gesetz hatte die nationalkonservative polnische Regierung sie über Nacht in Zwangspensionierung schicken wollen. Ihre „Verfehlung“: Sie war plötzlich zu alt für das Amt, das sie seit 2014 bekleidet hatte. Die Parlamentsmehrheit der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwosc – PiS) im polnischen Sejm hatte nämlich beschlossen, das Höchstalter der Richter am Obersten Gericht von 70 auf 65 Jahre zu senken.
Diese abrupte Entlassung wollte Malgorzata Gersdorf für die eigene Person nicht gelten lassen, verletzte dies doch das europäisch weit verbreitete „Gesetzlichkeitsprinzip“. Danach können Strafen und Sanktionen nicht noch nachträglich verhängt werden, wenn im Augenblick der Tat oder der Handlung kein entsprechendes Gesetz bestanden hat. Polens Verfassung von 1997 hat diesen Grundsatz ausdrücklich anerkannt. Deshalb argumentierte die Präsidentin: „Ich stütze mich auf die Verfassung, die meine Amtszeit ausdrücklich auf sechs Jahre festlegt. Das bisherige Gesetz nannte als Altersgrenze 70 Jahre. Das neue Gesetz ist während meiner Amtszeit verabschiedet worden und kann diese nicht verkürzen.“ Und an Staatspräsident Andrzej Duda schrieb sie: „Ich stelle fest, dass meine Amtszeit bis zum 30. April 2020 andauert und ich kraft des höchsten Rechts der Republik Polen, der Verfassung, zur Amtsführung verpflichtet bin.“
Der despektierlich inszenierte Rausschmiss traf Malgorzata Gersdorf auf dem Gipfelpunkt einer erstaunlichen Juristen-Karriere. Am 22. November 1952 in Warschau geboren, stand das Berufsziel für sie schon früh fest. Sie hatte sich nämlich ihren Vater zum Vorbild gewählt, einen bekannten Anwalt für Genossenschaftsrecht. Die ausführlichen Diskussionen am familiären Küchentisch vermittelten ihr daher zeitig Einblicke in die Jurisprudenz. Konsequent absolvierte sie daher ein rechtswissenschaftliches Studium einschließlich einer Promotion an der Warschauer Universität. Danach arbeitete sie weiter an der Hochschule. Während der Achtzigerjahre engagierte sie sich in der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, die in einem langen und beschwerlichen Kampf das kommunistische Regime Polens in die Knie zwang – gleichsam als Vorreiter für die friedlichen Revolutionen im gesamten realsozialistischen Osteuropa 1989/90. Nach der politischen Wende bekam Gersdorf bald eine Professur, nämlich 1992 für Arbeitsrecht an ihrer Heimatuniversität Warschau. Zeitweise war sie dort auch Vizerektorin und Dekanin der Fakultät für Rechtswissenschaft. Nach 2000 fungierte sie auch als Beraterin des Obersten Gerichts. 2008 als Richterin dort ernannt, stieg sie 2014 zur Ersten Vorsitzenden auf. Sollte das nun mit dem Pensionsgesetz alles einfach vorbei sein?
Also ging die Chef-Richterin am 4. Juli 2018 wie immer in ihr geräumiges Büro am Krasinski-Platz. Das wiederholte sich nicht nur für einige Tage, wie sie zunächst vermutet hatte, sondern auch für mehrere Wochen. Zwar erklärten wiederholt prominente Vertreter der Warschauer Regierung Gersdorf als Präsidentin für abgesetzt: Aber die kraftvollen Bekundungen der Politiker blieben in einer merkwürdigen verbalen Schwebe; denn es folgten keine praktischen Konsequenzen.
Über den radikalen Umbau des polnischen Justizwesens seit 2015 war es bald zu einem immer heftigeren Streit gekommen, zunächst im Lande selbst, aber dann auch mit EU-Institutionen. Für die PiS mit ihrem rückwärtsgewandten Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski gehörte die Umgestaltung der Gerichtsbarkeit zu den vorrangigsten Zielen. Der starke Mann der polnischen Politik hat die Priorität der Neuregelung sogar offen eingestanden. „Wenn wir sie nicht durchführen“, erklärte Kaczynski, „haben alle andere Reformen keinen Sinn. Bei der Justiz, die wir haben, würde alles früher oder später negiert und verworfen werden.“ Abgesehen davon, dass in diesen Worten eine tiefe Verachtung für die Unabhängigkeit der Rechtsprechung als unabdingbarem Prinzip der Gewaltenteilung zum Ausdruck kommt, diese Sentenz verrät zugleich die wahren Absichten des maßgeblichen Strippenziehers: die Umwandlung von Polens liberaler Demokratie in ein autokratisches System.
Konsequent galt bei solcherart Ausrichtung der erste Schlag 2015/2016 dem polnischen Verfassungsgericht. Mit vielen Gesetzesänderungen und gezielten Personal-Rochaden, die den Eindruck von manipulativen Manövern nicht verbergen konnten, brachte die Staats-Partei diese wichtige Institution für eine offene Demokratie unter ihre Kontrolle. „Ein mit Paradoxie geimpftes Gericht“, nennt es der deutsche Rechtsexperte Maximilian Steinbeis, „ist heute kaum mehr als ein Schatten seiner selbst“. Mit ähnlichen Methoden wurden inzwischen viele Bezirksgerichte umgekrempelt. Letztlich wollte die PiS auch das Oberste Gericht mit einem gezielten Coup vereinnahmen. Zwei zusätzliche Kompetenzen, neben dem Zivil- und Strafrecht, machen dieses für Politiker interessant: Es kontrolliert die Rechtmäßigkeit von Wahlen, so etwa in Kürze bei der Europawahl, und entscheidet über alle Disziplinarverfahren gegen Richter und ihre Urteile. „Die eigentliche Änderung besteht darin“, kommentiert Gersdorf, „dass die ordentlichen Gerichte und auch das Oberste Gericht von der Exekutive abhängig werden sollen. Das ist die Gefahr, gegen die ich und andere Richter kämpfen.“ Die Eigenständigkeit der Justiz werde dann nämlich illusorisch.
Die verbiesterte Umtriebigkeit der Warschauer Führung gegen die polnische Gerichtsbarkeit rief allerdings auch die EU-Kommission in Brüssel auf den Plan. Immer wieder wurde die rechtsnationale PiS-Regierung aufgefordert, ihre vielfachen Maßnahmen bei der Justizreform zu erklären, weil sie mit dem europäischen Recht nicht vereinbar seien. Die Antworten aus Warschau waren ausweichend und dürftig. So wiegelte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ab: „Jeder EU- Mitgliedstaat hat das Recht, das Justizsystem entsprechend seiner Tradition zu gestalten. In unserem Obersten Gericht arbeitet so mancher Richter, der während des Kriegsrechts die niederträchtigsten Urteile gegen Mitglieder der Solidarnosc-Bewegung gefällt hat. Und heute sitzt so jemand in diesem Obersten Gericht.“ Und weiter meinte der Regierungschef: „Die Wahrheit ist: Der Kommunismus ist bis heute durch uns nicht besiegt worden. Und wir bekämpfen ihn, indem wir unser Justizsystem reformieren.“ .Es ist das typische Argumentationsmuster, mit dem der man die polnische Demokratie umzupolen versucht: Bekämpfung alter roter Kader, die angeblich immer noch in vielen Amtsstuben säßen. Gersdorf lässt gerade diese Einlassung für ihr Gericht nicht gelten. Es sei nämlich erst nach der Wende konstituiert und mit neuen Juristen besetzt worden.
Auch die Brüsseler Kommission ließ sich lange mit solch verschwommenen Ausreden hinhalten. Doch schließlich reichte sie wegen der Justizreform ein Verfahren wegen Verletzung des EU-Vertrages beim Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ein. In Luxemburg sind inzwischen mehrere Klagen anhängig, darunter auch das wegen der Zwangspensionierung der hohen Richter. Und welch eine Überraschung: Im Oktober 2018 gab es eine Eilentscheidung des EuGH. In einer einstweiligen Anordnung wies die höchste europäische Instanz die polnische Regierung an, die Zwangspensionierung sofort zu stoppen. Ein Rückschlag für die Kaczynski-Partei, ein Etappensieg für Gersdorf. Denn das inkriminierte Gesetz wurde in einigen Punkten geändert. Gersdorf forderte die suspendierten Richter auf, in den Dienst zurückzukehren, 22 folgten diesem Ruf. Sie selbst amtiert seit dem 1. Januar 2019 wieder als legale Präsidentin, das Gericht bemüht sich um eine normale Funktionsweise, ihre Richterinnen und Richter sprechen wieder respektierte Urteile. Dennoch bleibt die prominente Professorin, eher widerwillig zur Symbolfigur des Widerstandes geworden, skeptisch: „Das bedeutet nicht, dass alle Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit und für die Unabhängigkeit der Gerichte verschwunden sind.“
Die Querelen um Chefrichterin Gersdorf und die Rechtsprechung in Polen sind kein Einzelfall, sondern führen mitten hinein in die erbitterten systemischen Auseinandersetzungen in vielen europäischen Staaten: die virulenten Attacken auf demokratische Verfassungen und ihre Institutionen durch rechtspopulistische und nationalchauvinistische Parteien. Längst erwachsen aus diesen Konstellationen ernsthafte, sogar existentielle Bedrohungen für freiheitliche Werte und emanzipatorische Lebensentwürfe. Demokratien sterben nämlich heute nicht mit einem dröhnenden Knall, sondern leise durch die Aushöhlung der liberalen Substanz, so konstatieren die US-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt; denn „die Erosion geschieht so unmerklich, dass viele sie nicht wahrnehmen“. Populisten und Nationalisten liefern dafür in Europa anschauliche Beispiele, von Putin und Erdogan über Orban und Kaczynski bis zu Salvini und Strache.
Dass die PiS-Führung in Polen von ihrem anachronistischen Projekt eines homogenen starken Staates nicht lassen will, der vor allem der eigenen Partei und deren Vorsitzendem folgt, beweist sie tagtäglich aufs Neue. Die Presse steht unter Dauerfeuer, die öffentlich-rechtlichen Medien sind längst mit PiS-Leuten besetzt. Die Rathäuser, so hat Kaczynski angekündigt, wolle er demnächst „durchlüften“. Und der Umbau des Obersten Gerichts schreitet munter voran, die Einsprüche der EU-Institutionen hat man zunächst taktisch pariert. Das ursprüngliche Ziel, diese Instanz von 72 auf 120 Planstellen auszuweiten und damit die Mehrheitsverhältnisse an diesem Gericht zu verändern, wird von der PiS keineswegs aufgegeben. Staatspräsident Duda hat bereits 37 Personen unter den neuen Bedingungen als Richter berufen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Soll erreicht ist. Und die Amtsführung der jetzigen Präsidentin endet in knapp einem Jahr.
Malgorzata Gersdorf will derweil robuste Streiterin bleiben. Dabei schaut sie nicht auf den eigenen Posten. „Der ganze Stress, den ich erlebe, ist nicht mit Geld zu bezahlen“, erklärt sie. „Aber hier geht es um etwas Höheres. Hier geht es um meinen Staat. Polen ist mein Staat.“
So redet nur eine überzeugte Verfassungspatriotin. Was kann einer Demokratie Besseres passieren?
Text: Hans-Peter Föhrding / Heinz Verfürth
Eine Gruppe des Kulturbündnisses "Hand in Hand" aus Chemnitz
Wenn Würde nicht mehr gilt
Der große Raum im Erdgeschoss eines verwitterten Eckhauses vermittelt auf Anhieb ein Stück Nostalgie im Retrolook. Möbel, Tische, Sessel, alles etwas abgewetzt, erinnern an die Wohnkultur der vergangenen DDR. So verbreitet der Raum das Flair eines tristen Wartezimmers früherer Zeiten. Doch die an einer Seite eingebaute moderne Kneipentheke spricht für eine andere Nutzung.
Die Lokalität trägt den Namen „Lokomov“. Am Rande des Stadtzentrums von Chemnitz gelegen, ist sie seit einigen Jahren eine wichtige Anlaufstelle für die alternative Szene aus Kultur und Kunst. Mit einer Mischung aus Café, Bar und Klub besitzt das Lokal vor allem für die jüngere Generation eine Attraktion, auch zu Gedankenaustausch und Dialog durch ein Programm mit Vorträgen, Lesungen, Ausstellungen. Dass Ideen aus dem „Lokomov“ sogar intervenierend in die Stadtgesellschaft hineinwirken können, hat sich im letzten Jahr augenfällig gezeigt. In wahrlich aufwühlenden Tagen sorgten sie mit der nachhaltigen Mahnung „Die Würde des Menschen ist antastbar“ auf einem großen Plakat für erhebliches Aufsehen.
Chemnitz, die drittgrößte Stadt Sachsens mit heute rund einer Viertelmillion Einwohnern, stand in den Monaten August/September 2018 wochenlang mit beklemmenden Bildern und knalligen Schlagzeilen im Fokus der Öffentlichkeit. Am Rande eines Stadtfestes war es am frühen Morgen des 26. August, einem Sonntag, zu Pöbeleien zwischen Deutschen und Asylbewerbern gekommen. Der hitzige Streit artete in eine Messerstecherei aus, bei der drei Deutsche verletzt wurden. Kurze Zeit später starb eines der Opfer im Krankenhaus, ein 35jähriger Mann. Schon bald kursierten in den Sozialen Medien Gerüchte über sexuelle Belästigungen von Frauen durch Ausländer, die dem wilden Disput vorausgegangen seien. Zugleich forderten Hooligans und rechtsgerichtete Gruppen mit dem Slogan „Lasst uns die Stadt zurückgewinnen“ zu Demonstration am Karl-Marx-Monument auf. Dieses Milieu ist seit Jahren bestens strukturiert und etabliert in Chemnitz, das die DDR-Führung mit der Umbenennung in Karl-Marx-Stadt einmal zu einer sozialistischen Musterkommune herausputzen wollte.
Als die Informationen von Krawallen umlaufen, wird das Stadtfest eilig abgebrochen. An der Stelle des makabren Todesfalls in der Brückenstraße werden Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet. Die Stimmung in der Innenstadt lädt sich bedrohlich auf. Etwa 800 Protestler finden sich am Nachmittag beim „Nischel“ ein, wie die Chemnitzer liebevoll-lästerlich den riesigen Marx-Kopf nennen, darunter viele gewaltbereite Hooligans und rechte Provokateure. Rigoros bahnt sich die Meute den Weg zu einem Marsch durch die City. Dabei kommt es massiv zu Ausschreitungen, Polizisten werden angegriffen, Journalisten bedroht.
Am Rande dieser Demonstration entstehen jene Bilder, die in ganz Deutschland ungewöhnliche Furore machen und im politischen Berlin heftige Kontroversen auslösen: Teilnehmer sprinten aus der Marschkolonne und verfolgen unter rassistischen Beschimpfungen Passanten, die sie für Ausländer halten. Schnell ist der Begriff „Hetzjagden“ in Umlauf, die Debatten über dieses Faktum verschärfen sich immer mehr. Schließlich kosten sie Hans-Georg Maaßen das Präsidentenamt beim Verfassungsschutz.
Der nächste Tag, 27. August 2018, verwandelt Chemnitz geradezu in einen Hexenkessel. Nicht nur die Rechtsparteien Pro Chemnitz und AfD bringen etwa 4.500 Menschen auf die Beine, auch Gegendemonstranten rekrutieren 1.500 Protestler. 600 Polizisten versuchen mühsam, die Formationen auseinanderzuhalten, doch die Einsatzkräfte in geringer Zahl zeigen sich bald nicht mehr als Herr der Lage. Rechtsextreme und Neonazis, aus ganz Deutschland inzwischen angereist, rollen die Straßen des Stadtzentrums auf. Es werden ausländerfeindliche Parolen gebrüllt, häufig der Hitler-Gruß gezeigt, Flaschen geworfen, Feuerwerkskörper gezündet, Journalisten angegriffen. Die Straftaten geschehen unter den Augen der Polizei. Ein „Zeit“-Reporter bilanziert: Es ist der Abend, an dem der Rechtsstaat aufgibt.
Unter dem Eindruck dieser erschütternden Ereignisse in ihrer Stadt stecken Aktivisten verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen und Vereine, Teil des Kulturbündnisses „Hand in Hand“, im „Lokomov“ ihre Köpfe zusammen. Zwar sind sie über die schreckliche Gräueltat und deren abgründige Folgen schockiert. Aber die Gespräche kreisen bald darum, was man dagegen machen könne. „Plötzlich kam mir die Idee mit dem Banner“, berichtet die Grafikerin Mandy Knospe vom Klub Solitaer über die Abendrunde. „Das ist eine große Fläche, die man nutzen kann, um irgendein Zeichen zu setzen.“ Ein Telefonat ihres Klub-Kameraden Lars Fassmann, auch eines gut vernetzten IT-Unternehmers, bringt das Okay für eine gewaltige Werbefläche an einem prominent gelegenen Cityhochhaus. Was dann in der folgenden langen Nachsitzung im „Lokomov“ passiert, ist der Erzählung wert.
„Immer wieder tauchte der Begriff Menschenwürde auf“, schildert Benjamin Schürer von der Initiative „re:marx“ den weiteren Verlauf der Diskussion. „Irgendjemand meinte spontan: Eigentlich sollte man daran erinnern, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, wie es im Grundgesetz heißt.“ Die Thematik wurde in der Runde gründlich beraten und gewendet. Man kam schließlich gemeinschaftlich überein, das „un“ wegzustreichen. „Denn das scheint der neue Normalzustand in dieser Stadt zu sein“, meint Schürer. Die Theaterpädagogin Gaby Reichardt begründet diese Überlegungen. Sie sei immer von der Grundannahme ausgegangen, dass alle Menschen gleich sind und eine Würde haben. „Doch ich glaube, dass es diesen kleinsten gemeinsamen Nenner nicht mehr gibt. Mit bestimmten Menschen kann ich nicht mehr darüber verhandeln, weil hier der Konsens fehlt. Eben: dass ein Mensch mit dunkler Hautfarbe auch ein Mensch ist. Oder dass ein Obdachloser die gleichen Rechte hat wie alle anderen Menschen. Da muss man anfangen und anders handeln.“ Solitaer-Mitglied Robert Verch spricht direkt die skandalösen Vorfälle in Chemnitz an: „Es ist dem Staat nicht gelungen, bei den Aufmärschen die Würde aller Menschen zu schützen, etwa der Gegendemonstranten und der Ausländer. Das wollten wir mit unserer Aktion ausdrücken.“ Es ist gleichsam der Blick in eine Geschichtswerkstatt, die sich mit ihrer unbefriedigenden Umwelt kritisch auseinandersetzt und den Mumm zum zivilgesellschaftlichen Engagement aufbringt.
Zwei Tage später flattert am Hochhaus in der Brückenstraße das riesige Plakat mit der Aufschrift: „Die Würde des Menschen ist antastbar – Artikel 1 (1) Grundgesetz, Stand 27.08. 2018“. Das 17 mal 7 Meter große Banner wurde geradezu treffgenau angebracht: Einen Tag vor der als „Trauermarsch“ deklarierten Demonstration am 1. September 2018 unter dem Motto „Wir vergessen nicht“, auf der die rechte deutsche Szene den Schulterschluss probt. Denn auf der Kundgebung, zu der fast 5.000 Teilnehmer aus dem ganzen Land zusammengetrommelt wurden, gehen Spitzenleute der AfD wie Björn Höcke und Andreas Kalbitz mit Pegida-Propagandisten wie Lutz Bachmann und Siegfried Däbritz, Wortführer der Identitären wie Martin Sellner und Götz Kubitschek sowie Vertreter anderer rechtsextremistischer Zirkel Arm in Arm – ein braunes Gruppenbild, wie es die Republik zuvor nie gesehen hat. Über ihnen prangt das hintergründige Denkzeichen von der angreifbaren Würde.
Die Kreativen aus dem „Lokomov“ ahnen, dass sie bald wieder gefordert sein werden. Schon brüten sie über die nächsten einfallsreichen Projekte, die trotz allem Ernst auch Spaß machen sollen. „Wenn uns das gelingt, ist das genial. Das Konzept der Schrei- und Gegendemos ist einfach nicht mehr förderlich“, meint Thomas Heidenreich von den Chemnitzer Stadtindianern. Denn sie wissen zu genau: Der Schoß ist fruchtbar noch.
Text: Hans-Peter Föhrding / Heinz Verfürth
Operation Libero
Der Rechtsdrall bekommt Gegenschub
Wer sich im Fußball auskennt – und das sind Millionen Menschen – weiß von der Bedeutung des Libero bei diesem Mannschaftsspiel. Es ist eine defensive Position, denn der Libero soll das Feld nach hinten absichern. Da er aber keinen direkten Gegenspieler in der gegnerischen Mannschaft hat, ist es ihm auch möglich, offensiv nach vorn einzugreifen. In der englischen Sprache wird dieser freie Spieler sweeper genannt, also Ausputzer, und das beschreibt trefflich seine Funktion. Auch wenn heute der Einsatz von Liberos etwas veraltet erscheint, es gab Zeiten, in denen sie ihre Rolle so perfektionierten, dass sie bei Meisterschaften zu Siegertypen avancierten. Denn sie erwiesen sich als wichtigste Akteure auf dem Platz.
So ist es kaum ein Zufall, dass sich eine zivilgesellschaftliche Bürgerbewegung in der Schweiz den Namen „Operation Libero“ zugelegt hat. Denn deren unabhängige Aktivisten wollen die politische Landschaft in der Eidgenossenschaft aufmischen. Und dies ist ihnen in den letzten Jahren zuweilen in spektakulärer Weise gelungen. Denn die Liberos und Liberas, wie sich die Mitglieder keck bezeichnen, sind zu beachtlichen Mitspielern im politischen Wettbewerb des Landes aufgestiegen. Ohne den Status einer Partei zu haben brachten sie im direktdemokratischen System neue Elemente des politischen Diskurses ein. Zu spüren bekam dies vor allem die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP). Viele Jahre unter der Patronage des nationalkonservativen Unternehmers Christoph Blocher, musste die lange erfolgsverwöhnte Partei einige empfindlichen Niederlagen hinnehmen, eben durch viele Gegenkampagnen der „Operation Libero“.
Die rührige Organisation konstituierte sich allerdings unter dem Eindruck eines Schockerlebnisses. Am 9. Februar 2014 hatte die Volksinitiative Gegen Masseneinwanderung mit einer knappen Mehrheit von 50,3 Prozent obsiegt. Dadurch soll die Immigration von Ausländernin der Schweiz jährlich durch Höchstzahlen und Kontingente begrenzt werden. Dieser fremdenfeindliche Akt war von der rechtslastigen SVP auf den Weg gebracht worden – wenn auch nur mit knappem Erfolg. Doch aufgrund dieses Resultates formierte sich alsbald in Bern eine Gruppierung junger Leute, unter ihnen viele Akademiker, die diese rechtsgewirkten Tendenzen nicht mehr ungerührt hinnehmen wollte.
„Es steht zu viel auf dem Spiel, um weiter zuzusehen. Es ist an der Zeit, und es ist an uns, dafür einzustehen, wofür sich heute kaum jemand mehr einsetzt“, heißt es in einem Selbstporträt von „Operation Libero“ über die Motivation zur Gründung einer neuen politischen Riege. Frischluft für die liberale Sache, Impulse setzen und Druck ausüben, sowie langfristig den Diskurs beeinflussen: So lauteten die ambitionierten Zielvorstellungen. „Wir setzen uns dafür ein, dass das liberale Gedankengut, welches die Schweiz groß gemacht hat, nicht verlorengeht, sondern unsere Zukunft prägen wird“, war der Tenor des Anfangs und auch die Überzeugung, dass ein liberale Wirtschaftspolitik und eine liberale Gesellschaftspolitik zueinander nicht im Widerspruch stehen sondern sich gegenseitig bedingen. Der kritische Blick galt nicht nur einzelnen Entscheidungen, sondern dem generellen Panorama politischer Prozesse für Öffnung und gegen Abschottung. Der Blockadehaltung der etablierten Parteien von rechts und links in Bern wollten die Liberos und Liberas eine „Schweiz als Chancenland“ entgegensetzen.
Inzwischen verfügt die Organisation über rund 1.400 Mitglieder. Neben dem Bundesverband bestehen vier regionale Sektionen in Bern, Genf, Zürich und Basel; weitere Teams in der Ostschweiz sind im Aufbau. Zwar arbeiten diese Gruppen der Spitze zu, unterstützen auch nationale Kampagnen. Doch sie entwickeln ansonsten ein Eigenleben. „Für uns wichtiger als die Mitglieder ist die Zahl derjenigen, die sich bereit erklärt haben, sich bei uns zu engagieren“, sagt Laura Zimmermann, Co-Präsidentin neben Flavia Kleiner, die bereits das Gründungskomitee führte. Für die 26jährige Studentin, häufig als das „Gesicht“ der Bürgerbewegung bezeichnet, gehören auch die 5.000 „Aktiven“ dazu; zudem bilden sich kleine Teams, die sich speziellen Themen widmen. Sprecherin Zimmermann erwähnt auch die Follower in den Sozialen Netzwerken, die mehrere Zehntausende ausmachen. All dies summiert sich zu einer breit gefächerten zivilgesellschaftlichen Formation, die inzwischen eine solide Mobilisierungskraft entwickeln kann.
Bei drei Volksabstimmungen, die die schweizerische Liberalität im Sinne eines Rechtstrends umpolen sollten, hat sich die Einsatzfähigkeit von „Operation Libero“ beispielhaft gezeigt. Im Februar 2016 ging es um die schnellere und erweiterte „Ausschaffung krimineller Ausländer“, also die beschleunigte Abschiebung von Migranten, die Gesetze und Vorschriften übertreten hatten. Das Vorhaben wurde mit 58,9 Prozent abgelehnt. Zwei Jahre später, im März 2018, sollten die Radio- und Fernsehgebühren gestrichen werden. Es wäre für die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG-SSR) ein harter Schlag gewesen, hätte doch der Verlust der Gelder eine Einschränkung regionalen politischen Vielfalt bedeutet. Und damit wäre der für die direkte Demokratie essentielle politische Diskurs unterminiert worden. Doch der Plan scheiterte mit 71,6 Prozent Nein-Stimmen. Schließlich misslang im November 2018 die Vorlage, nach der Schweizer Recht über internationales Recht gestellt werden sollte. Unter dem harmlos klingenden Kurztitel Selbstbestimmungsinitiative offeriert, wäre bei Zustimmung die Verlässlichkeit der Schweiz bei internationalen Verträgen und Institutionen wie der UN infrage gestellt worden. Das Nein fiel mit 66,2 Prozent deutlich aus. Auf diese Weise erfuhr gerade der Tatendrang der nationalkonservativen SVP einen Dämpfer.
Natürlich war die „Operation Libero“ nicht der alleinige Opponent, da reihten sich viele Parteien und Gruppierungen ein. Aber die Vorgänge belegen, wie auch die Schweizer Demokratie durch den Rechtspopulismus stark unter Druck gerät – ein Phänomen, das in immer mehr europäischen Staaten grassiert. Und verdeutlicht andererseits, welchen Stellenwert den Aktivitäten der „Operation“ beizumessen ist. „Dass wir öfter gegen die SVP angetreten sind, hat vor allem damit zu tun, dass die größten Angriffe auf unseren freiheitlichen Rechtsstaat von dieser Seite kamen“, erläutert Repräsentantin Zimmermann. Denn sie würde lieber von einem Reaktions- auf den Aktionsmodus umschalten.
Da hat sich „Operation Libero“, die mit der aufreizenden Farbe Pink wirbt, programmatisch einiges vorgenommen: Ehrliche Europapolitik, gezielte Umverteilung, freie Lebensentwürfe, offener Arbeitsmarkt, Bürgerrecht für ein Einwanderungsland, nachhaltiger Verkehr, um nur die wichtigsten Intentionen zu nennen. Damit setzen sich ihre Streiter in der eher biederen Eidgenossenschaft mannigfacher Kritik aus. „Operation Liberallalla“ nannte die Neue Zürcher Zeitung die „jugendlich-hippe“ Bewegung. Hinter deren liberaler Fassade verberge sich „viel zeitgeistig verpackter Sozialdemokratismus“. Was von dieser Operation noch zu erwarten sei, fragte das Blatt suggestiv seine Leser.
Co-Präsidentin Zimmermann ist da um eine Antwort nicht verlegen. „Operation Libero“ wolle sich in die eidgenössischen Wahlen im Oktober 2019 einmischen, durch Empfehlungen für Kandidaten, die für eine offene und freiheitliche Schweiz einträten. „Die Parlamentswahl 2019 ist ein Richtungsentscheid. Es ist eine Abstimmung über die Zukunft unseres Landes, ein Referendum über Fortschritt oder Stillstand.“ Und hoffnungsvoll: „Wenn wir die Zukunft gestalten, liegt das Beste noch vor uns.“ Über den besten Weg dorthin werde noch nachgedacht. „Nur so viel“, verrät sie eigenwillig, „Operation Libero war schon immer gut für ein wenig irre Ideen.“
Text: Hans-Peter Föhrding / Heinz Verfürth
Refugee Law Clinics Deutschland e.V.
Modellhafter Gewinn auf beiden Seiten
Geben und Nehmen: Das ist eine sehr alte Formel für ein menschlich gedeihliches Miteinander. Ohne dieses Attribut ist kaum eine Gesellschaftsordnung vorstellbar, die sich dem Prinzip der Gegenseitigkeit verpflichtet fühlt. Denn nur mit diesem Bewusstsein lassen sich Rechtlichkeit und Moral, Solidarität und Menschenwürde verwirklichen und leben.
Wie eine solche Qualität im Alltag konkret praktiziert werden kann, lässt sich trefflich an der Arbeit der Initiative Refugee Law Clinics (RLC) ablesen. Ihren Titel haben die Aktivisten dieser zivilgesellschaftlichen Organisation amerikanischen Vorbildern entlehnt. In den USA bildeten sich während den Hochzeiten der Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigerjahren unter dem Begriff „Law Clinics“ Gruppierungen von Jura-Studenten, die den schwarzen Protagonisten im Kampf gegen Rassentrennung und für Gleichberechtigung mit Rechtsberatung zur Seite stehen wollten. „Aktives Lernen“ hieß das Motto. Denn mit ihrem persönlichen Engagement wollten die künftigen Richter und Anwälte zugleich Erfahrungen für die Praxis sammeln.
Dieses Modell fand in den Nullerjahren in Deutschland Nachahmer. So gründete sich 2007/2008 an der juristischen Fakultät der Universität Gießen eine erste studentische Law Clinic, noch angebunden an den Lehrstuhl für Öffentliches Recht. Als Betätigungsfeld wählte sie das Migrations- und Asylrecht. Der Funke aus Hessen sprang später auf andere Hochschulstandorte über. Es bildeten sich Vereine von Jura-Studentinnen und Jura-Studenten unter der Bezeichnung Refugee Law Clinic in Köln, Heidelberg, München, Berlin, Leipzig und Hamburg. Sie waren längst nicht mehr an den jeweiligen Fakultäten ihrer Universität angesiedelt, sondern entwickelten einen eigenen Status. Zuweilen aber operieren sie noch auf dem Campus, weil ihnen dort kostenlos Räume zur Verfügung gestellt werden.
Das Jahr 2015, als Hunderttausende Flüchtlinge aus den nahöstlichen Kriegsschauplätzen und den afrikanischen Krisengebieten nach Deutschland gelangten, ließ den Bedarf an Rechtsberatung für diese Ankömmlinge sprunghaft steigen – und damit zugleich weiterer studentischer Refugee Law Clinics. Inzwischen bestehen 57 Gruppen in 30 deutschen Städten, zuweilen sogar mehrere an einem Ort wie in Berlin, München oder Hamburg. Auch formierte sich 2016 ein Dachverband in der Bundeshauptstadt, der sich über Spenden finanziert. Er sieht seine Aufgabe vor allem darin, die Arbeit der örtlichen Vereine zu professionalisieren, zugleich eine intensive Vernetzung innerhalb Deutschlands und Europas zu betreiben.
„Es ist eine echte Win-Win-Situation“, beschreibt Vorstandmitglied Christoph König seine jahrelange Tätigkeit in der Berliner Zentrale der RLC. Er habe den Flüchtlingen jene Hinweise und Empfehlungen geben können, die sie bei ihrem komplizierten und langwierigen Weg durch die deutsche Bürokratie brauchten, meist durch Beistand und Begleitung. Auf Chancen und Risiken können sie aber nur bedingt einwirken. „Je früher wir ansetzen, desto höher sind die Erfolgsaussichten“, erläutert König, der augenblicklich seine Dissertation in Rechtsgeschichte an der Humboldt-Universität schreibt. Zugleich habe er jedoch selber davon profitiert, weil er die Anwendung des Rechts in der Praxis erleben konnte – eine Übung, die ihm die sonst meist abstrakt ausgerichtete Ausbildung an der Hochschule kaum vermittelt habe. „Ich weiß nicht, ob ich mein Jura-Studium durchgehalten hätte, ohne die Erfahrungen mit der Beratung von Flüchtlingen,“ resümiert König seine Geben-Nehmen-Erkenntnis.
Vor solchen beglückenden Erlebnissen hat der RLC-Verband allerdings eine lange Vorbereitungszeit gelegt. Denn die Interessenten für die Flüchtlingsberatung müssen zunächst eine einjährige Schulung absolvieren. Dazu gehören Vorträge, Kurse und Seminare, zudem die Teilnahme an einer Supervision, um auf die psychosozialen Belastungen der anstrengenden Aufgabe vorzubereiten und sie abzufedern. Diese stützenden Maßnahmen werden fortgesetzt, wenn die praktische Hilfeleistung bereits ausgeübt wird. Die Beratungen finden zumeist in offenen Sprechstunden statt, aber die RLC-Aktiven treffen auch Verabredungen mit Flüchtlingen oder suchen sie in ihren Unterkünften auf – keineswegs immer zur Freude der zuständigen Behörde, der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Da kann es zuweilen passieren, dass ihnen der Zugang verwehrt wird.
„Wir hören die Fluchtgeschichten an, überlegen, wie der Fall zu lösen ist, beraten, begleiten auch einige zur Anhörung vor den Behörden“, schildert die Jura-Studentin Pauline Lehmann ihr Metier. „Als gelungen empfinde ich die Beratung, wenn wir Klarheit darüber schaffen konnten, was als nächstes zu unternehmen ist. Es gibt aber auch Fälle, da können wir nicht weiterhelfen. Das ist dann schwer auszuhalten.“ Und die junge Helferin reflektiert weiter: „Am Anfang war ich etwas angespannt, weil man soviel Verantwortung trägt. Ich will keine falschen Hoffnungen wecken, und auch keine falschen Informationen geben.“ Nein, dies sei „kein Kaffeeklatsch“, fügt sie hinzu, deshalb schwinge immer auch eine „große Ernsthaftigkeit“ bei den Begegnungen mit.
Ganz mutige RLC-Aktivisten suchen die Erfahrung sogar in extremen Situationen: Sie melden sich zu einem vierwöchigen Praktikum in überquellenden Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln. So ging Christoph König nach Samos, Pauline Lehmann besuchte Lesbos. „Man liest das und sieht Bilder, aber man kann es sich nicht vorstellen. Wenn man einen Monat lang jeden Tag dort ist, lernt man Leute kennen,“ schildert die Studentin ihre Eindrücke. „Jeder braucht ein Dach über dem Kopf und Essen, das leuchtet sofort ein. Aber zu einer menschlichen Behandlung gehört Rechtsberatung: dass man die Leute über ihre Rechte informiert, sie auf dem Laufenden hält und nicht in irgendeinem Camp schmoren lässt. Diese Unsicherheit muss schwer zu ertragen sein.“
Für Mitstreiter König zählt außer den individuellen Erfahrungen auch eine nachhaltige Wirkung seines Verbandes: „Wir sickern immer tiefer in die Gesellschaft ein“, umreißt er seine Ansicht. „Zunächst natürlich in den Universitäten. Später dann in Ministerien und Verwaltungen, Gerichten und Anwaltskanzleien. Denn unser Netz, das wir knüpfen, trägt weiter. Das zeigt sich jetzt bereits. Denn viele junge Anwälte für Asylrecht sind schon bei uns sozialisiert worden.“
Deshalb ist die Hoffnung nicht abwegig, dass durch dieses Beispiel beidseitigen Gewinns bei Refugee Law Clinics unsere Gesellschaft ein kleines Stück humaner wird.
Text: Hans-Peter Föhrding / Heinz Verfürth
Jedem seine Demokratie? Keine Demokratie ohne Rechtsstaat!
Am 10. Mai 2019 fand im Landtag von Baden-Württemberg unser traditionelles Kolloquium zum diesjährigen Jahresthema „Jedem Seine Demokratie? Keine Demokratie ohne Rechtsstaat!“ statt.
Nach der Begrüßung von Prof. Dr. Ludwig Theodor Heuss, Vorsitzender des Vorstands der Theodor Heuss Stiftung, führte Gerhart R. Baum, Bundesinnenminister a.D., Mitglied des Kuratoriums der Theodor Heuss Stiftung und Theodor Heuss Preisträger 2008, in das Jahresthema „Jedem seine Demokratie? Keine Demokratie ohne Rechtsstaat!“ ein: „Wir müssen uns genau ansehen, wer den Begriff „Rechtsstaat“ benutzt. Die Bürgerrechte sind in Europa fest verankert. Es geht um die Unabhängigkeit der Justiz. Der Respekt vor der Justiz und den Gerichten muss immer wieder eingefordert werden. Gefahr drohe, wenn autoritäre Regime eine Selbstermächtigung in Anspruch nehmen und Einfluss auf die Justiz nehmen bzw. sich diese vielmehr unterwerfen. Es beginnt in der Regel mit der Einschränkung der Pressefreiheit. Diese Entwicklung ist u.a. auch in Polen zu beobachten, es ist jedoch eine weltweite Umbruchsituation und wir können die Probleme nur international lösen. Wir müssen die Missstände benennen und dazu brauchen wir ein starkes Europa.“.
Im Anschluss wurde das Thema weiter vertieft und im Plenum über „Illiberale Demokratie und Hybridregime versus Rechtsstaat: Wie schützen wir die Freiheit und Sicherheit von Individuen und Minderheiten und ermöglichen eine gerechte und weltoffene Gesellschaft?“ diskutiert. Dazu gab es die Impulsreferate der Theodor Heuss Medaillenträger 2019: Robert Verch („Hand in Hand“): „Wir sind nicht organisiert, sondern eine Gruppe Kulturschaffenden aus der Stadt Chemnitz. Chemnitz hat nach der Wende 40 0000 Einwohner verloren und wir Kulturschaffenden suchen nach Perspektiven um Räume zu öffnen und die Spaltung in der Stadt zu überwinden. Über das rechtsextreme Mobilisierungskapital in der Stadt sind wir Engagierten nicht überrascht und die Aneignungsstrategien der rechten Seite sind uns bekannt – wir erleben es immer wieder, wenn der 3. Weg vorbeimarschiert. Wir stellen uns die Frage, wem gehört die Stadt? Im Zeitraum der Demonstrationen in Chemnitz 2018 entstand die Idee, den ersten Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen einer politischen Kunstaktion neu zu artikulieren und ein sichtbares Zeichen zu setzen. Binnen weniger Stunden konnten wir ein 100 Quadratmeter großes Banner an einem Chemnitzer Hochhaus, mit dem abgeänderten Artikel 1 (1) des deutschen Grundgesetzes, „Die Würde des Menschen ist antastbar“ installieren. Zusätzlich haben wir entlang der geplanten Marschroute der Demonstranten von AfD und ‚Pro Chemnitz’ Grundgesetztexte als „Grundgesetzhürden“ platziert. Es kam nicht zur Auseinandersetzung der Rechten mit den Grundgesetzen, die Marschroute wurde umgeleitet. In der Stadt herrscht das Klima, das jedem bewusst ist, das permanent etwas passieren kann.“, Laura Zimmermann (Operation Libero): „Ein befreundeter deutscher Aktivist sagte einmal, dass es bei den schweizerischen Rechten keinen offensichtlichen Fremdenhass gäbe, sie seien gepflegt fremdenfeindlich. Diese Aussage von außen subsumiert genau das, was die Schweiz unter der Schirmherrschaft der Schweizerischen Volkspartei SVP in den 1990er Jahren zur Avantgarde der Rechtspopulismus Szene in Europa gemacht hat. Wir sind mittlerweile etabliert und ein Schreck der schweizerischen Rechten. 2018 konnten wir zwei der entscheidendsten SVP Politvorlagen mit einem demokratischen und rechtsstaatlichen Argumentarium mitbekämpfen und verhindern. Wir wollen jedoch nicht nur verhindern, sondern das Chancenland Schweiz mitgestalten. Wir müssen uns mit Gleichgesinnten in ganz Europa weiter vernetzen, zusammenschließen und voreinander profitieren. Wir sind in der Pflicht, uns die Errungenschaften der europäischen Nachkriegsgeneration im 21. Jahrhundert wieder neu anzueignen. In Zeiten, in denen Autokraten erstarken, muss Europa mit vereinten Kräften die Rechtsstaatlichkeit hoch halten und für ein freiheitliches Europa einstehen, auch im Bewusstsein, dass es noch kein perfektes Europa ist, aber ein Europa, das unermüdlich daran arbeitet, sein Versprechen für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu halten“ und Katrin Sass (Refugee Law Clinics Deutschland e.V.): „Der Zugang zur Justiz ist eine wichtige rechtsstaatliche Errungenschaft für Geflohene. Mittlerweile gibt es mehr als 35 Refugee Law Clinics in ganz Deutschland, die unterschiedlich engagiert sind, mit dem Ziel, junge Jurastudentinnen und -studenten und andere Interessierte auf dem Gebiet des Migrations- und Aufenthaltsrechts zu schulen und eine unabhängige Rechtsberatung für Geflüchtete anzubieten und diese bei Behördengängen zu begleiten. Dabei werden Fragen zum Asylverfahren, zu Rechtsänderungen und zu Sozialleistungen geklärt. Die Studenteninnen und Studenten unterstützen in den Flüchtlingsunterkünften in Deutschland, aber auch vor Ort in Griechenland, was gegebenenfalls eine starke emotionale Belastung aufgrund traumatischer Einzelschicksale mit sich bringt. Wir bereiten alles vor, bevor es zur Klage geht, um überlastete Rechtsanwälte bei den Vorarbeiten zu unterstützen. Die praktische Arbeit bietet eine gute Vorbereitung für die Studentinnen und Studenten für die zukünftige Berufstätigkeit.“.
Fachkundig moderiert wurde die Veranstaltung von Prof. Dr. Rupprecht Podszun, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Vorstand der Theodor Heuss Stiftung. Die Zusammenfassung der Veranstaltung wurde von Prof. Dr. Gesine Schwan, Vorsitzende des Kuratoriums der Theodor Heuss Stiftung wohl formuliert, die dazuhin einen weitreichenden Ausblick als Anregung für weitere Überlegungen mit auf den Weg gab: „Es macht Mut. Die Auswahl der zu ehrenden Personen ist großartig gelungen! Schon Herr Baum hat darauf hingewiesen, der Rechtsstaat besteht einerseits aus Gesetzen, aber ohne das, was wir politische Kultur nennen, ohne die Einstellung und Werterhaltung der Bürgerinnen und Bürger, ist er nicht haltbar. Ohne ihr Engagement kann kein freiheitliches politisches System garantiert werden. Das aktive Engagement der Auszuzeichnenden zeigt, dass die Motivation nicht versiegt und der starke Wunsch nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der jungen Generation weiterlebt. Die Methoden, die eine Gesellschaft ansprechen sollen, sind dabei unterschiedlich. In der Parteiendemokratie werden Wahlkämpfe durch professionelle Wahlkämpfer gemacht, die sind gut in den Formulierungen, im Zuspitzen, aber schlecht im weiteren Durchargumentieren, das ist das, was Operation Libero ausmacht. Daraus kann man lernen. Die Bedeutung der Kultur und die Bedeutung, darauf zu schauen, was in Behörden passiert, sind sehr wichtig. Mit der Kultur brechen Sie Schematisierungen und Zuordnungen auf und schaffen Freiraum und bringen damit unterschiedliche Positionen ins Gespräch.
Und was machen wir, wenn eine Mehrheit von Menschen die Demokratie abschafft? Die Ewigkeitsgarantie ist doch keine Garantie dafür, dass es ewig bleibt. Zwei Punkte sind von Bedeutung. Es sind meistens Fälle, wo Menschen materiell oder vor allem psychologisch in ihrem Selbstwert sehr gekränkt wurden und somit zu einer Disposition kommen und nicht mehr nachdenken wollen, also ressentimentbereit sind. Die Nichtanerkennung erleichtert es, die Hemmungslosigkeit weiterzugeben. Menschen haben ein Potential für Gut und Böse. Die Haltbarkeit von einer freiheitlichen Ordnung, einer Demokratie hängt davon ab, ob es ein leichtes Übergewicht für die Bereitschaft der Menschen gibt, fair, freiheitlich und kooperativ zu handeln. Es gibt keine Sicherung dafür, eine freiheitliche Ordnung zu erhalten und es geht nie ohne das aktive Engagement, so wie es die Theodor Heuss Medaillenträger gezeigt haben.“
Zur Demokratie ermutigen!
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Die Theodor Heuss Stiftung steht für eine starke Demokratie. Wir wollen Begeisterung für Demokratie wecken, sie fördern und den Rechtsstaat und die Menschenrechte stärken. Mit der jährlichen Theodor Heuss Preisverleihung macht die Stiftung aktives demokratisches Engagement sichtbar und gibt Impulse für Partizipation, Initiative und Engagement in einer europäischen Bürgergesellschaft.
Ermutigen Sie zur Demokratie!
Unser besonderer Dank für die finanzielle Unterstützung unserer Projekte in diesem Jahr gilt dem Land Baden-Württemberg, der Landeshauptstadt Stuttgart, dem Gewinnsparverein der Sparda Bank, der Merck-Finck-Stiftung, Annette und Timo Rögelein, der Solics GmbH, der Stiftung der Volksbank Zuffenhausen eG, der Vector Informatik GmbH.