Rede zum Jahresthema
Prof. Dr. Gesine Schwan
59. Theodor Heuss Preisverleihung, 20. April 2024
I. Einleitung
Die liberale Demokratie steht weltweit unter Druck. Bei allen Unterschieden im Einzelnen hat das Vertrauen in die westliche Demokratie, vor allem in demokratische Institutionen wie Regierungen, Parlamente, Parteien und Verbände überall Besorgnis erregend abgenommen.
Da es sich um eine globale Tendenz handelt, stellt sich die Frage ob ihr einheitliche Ursachen oder Motive zugrunde liegen, oder ob der Druck aus unterschiedlichen Kontexten und Erfahrungen erwächst, die einfach zusammenkommen.
In meinen folgenden Überlegungen können dazu nur einige Erwägungen vorgestellt werden, die sich zunächst auf gemeinsame plausible Gründe für den weltweiten Druck beziehen und dann auf deren historische Konkretisierung.
II. Die Entwicklung in den westlichen Demokratien
1. Politische gleiche Freiheit und sozial-ökonomische Gegensätze
Seit dem 19. Jahrhundert haben in der Folge der politischen Freiheits- und Gleichheitsforderung der Französischen Revolution – ihre Losung hieß ja Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – drei sog. große Erzählungen den Menschen eine bessere Zukunft versprochen: die liberale Demokratie, der Kommunismus und der Faschismus. Sie entstanden aus dem Widerspruch zwischen der in der Revolution politisch geforderten und zugesagten gleichen Freiheit für alle Bürger einerseits und der erlebten krassen sozialen Ungleichheit andererseits. Dieser Widerspruch, der im 19 Jahrhundert im Kontext eines dynamischen Kapitalismus mit seinem zunehmenden Wohlstand und seinen gleichzeitig wachsenden sozialen Gegensätzen immer bedrängender wurde, sorgte insbesondere in Europa für explosive politische und soziale Konstellationen, die in zwei grausame Weltkriege mündeten.
Bis zum brutalen Überfall Putins auf die Ukraine lebten wir in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und nach 1989 mit einem Welt- und Geschichtsbild, in dem Kommunismus und Faschismus endgültig verloren hatten und die Demokratie weltweit als einzige Erzählung übrig blieb; dies, obwohl global die Entstehung autokratischer Regime, die sich aus vergangenen totalitären und faschistischen Systemen inspirierten, unübersehbar wurde. Die massiven geopolitischen Machtverschiebungen ebenso wie das Erstarken rechtsextremer politischer Strömungen innerhalb der liberalen Demokratien, die auf die Wiedergeburt eines völkisch-nationalistischen Gleichheitsversprechens im Rahmen von Nationalstaaten zielen, haben nun die Perspektive auf eine globale Auseinandersetzung zwischen liberalen Demokratien und z.T. kommunistisch konnotierten Autokratien mit totalitären faschistischen Zügen erneut virulent eröffnet. Diese geopolitische Perspektive setzt die Demokratie weltweit unter Druck.
Freilich liegen dahinter komplexe Ursachen, die wir genauer in den Blick nehmen müssen, um den Kampf um die Demokratie zu gewinnen. Kommunismus und Faschismus haben eine Freiheit angestrebt, die nicht allen Menschen zukommen, also nicht universal sein sollte wie die des Liberalismus, sondern beschränkt war und ist auf Volk bzw. Klasse, und auch das nur theoretisch. In der Praxis führte und führt diese Beschränkung in den betroffenen Staaten zur Abschaffung politischer Freiheit überhaupt. Sie verlassen damit den Ausgangspunkt der Französischen Revolution.
Die Demokratie, der in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Zukunft zu gehören schien, hat dagegen in ihren parteipolitisch konservativ, liberal oder sozialdemokratisch geprägten Versionen – nicht nur in Europa, auch in Australien oder Neuseeland und natürlich auch in den USA – mit sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Politik und mit Wirtschaftswachstum erfolgreich eine Balance geschaffen zwischen wirtschaftlich-kapitalistischer Freiheit, die zwar die ökonomische Dynamik, aber eben auch die soziale Ungleichheit fördert, und politischer Freiheit, die als Anspruch für alle gilt. Das gelang ihr jeweils im Rahmen von Nationalstaaten.
2. Kompetenzverlust der Nationalstaaten in der Globalisierung
Seit dem Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben deren politische Führungen jedoch, beginnend mit Margret Thatcher und Ronald Reagan ganz überwiegend die ökonomische Globalisierung vorangetrieben und damit die nationalstaatlichen Instrumente der politischen Regulierung für diese Balance aus der Hand gegeben. Nationalen Regulierungen in Bezug auf Steuern, Investitionsbedingungen, Arbeitsmarkt etc. konnten und können sich global agierende Unternehmen entziehen. Anstelle von staatlicher Politik sollten nun möglichst ungestört die Märkte die Wirtschaft sowohl stimulieren als auch regeln. Zugleich ging es darum, die demokratische Politik mit ihren oft verantwortungslos erscheinenden Wahlversprechen durch die Märkte in Zaum zu halten. Marktradikale Ökonomen vertrauen ihnen mehr als der Demokratie. In dieser Zeit begannen die Gegensätze zwischen Arm und Reich wieder z.T. drastisch zu wachsen.
Gleichzeitig wurde in dieser öffentlichen Kultur des Marktradikalismus der Wettbewerb sowohl als Motor als auch als Indikator von wirtschaftlicher Leistung und Leistungssteigerung auf die außerökonomischen gesellschaftlichen Teilbereiche – Bildung, Wissenschaft, Kultur, Gesundheitssektor, die sozialen Sicherheitssysteme, die Daseinsvorsorge im allgemeinen – ausgedehnt. Der damalige BDI Präsident Olaf Henkel forderte in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit Nachdruck, dass sich die Bundesrepublik von einer Wettbewerbswirtschaft in eine Wettbewerbsgesellschaft weiterentwickeln müsse. Ein zentrales Ergebnis dessen war, dass sich die Gesellschaft immer mehr in wenige Gewinner und viele Verlierer auseinanderdividierte und dass der Grundwert der Solidarität litt.
Den Politikerinnen und Politikern, die auf nationaler Ebene ebenfalls den Wettbewerb um Macht zunehmend ins Zentrum rückten, gelingt es seitdem immer weniger, diesen Diskrepanzen entgegenzusteuern. Parallel zum Verlust des sozialen Zusammenhalts durch die Hypostasierung einer Kultur des Wettbewerbs, die die Bürger auf allen Gebieten gegeneinander zu Konkurrenten macht, wurde der normative gesellschaftliche Grundkonsenses über die verbindenden lebendigen Werte erheblich beeinträchtigt. Ungerechtigkeiten waren keine anstößigen ethisch-moralischen Probleme mehr, sondern wurden im ökonomischen Wettbewerb zu notwenigen Anreizen für Leistungssteigerung und marktgerechte Chefgehälter.
3. Jeder gegen jeden im Wettbewerb ohne politischen Grundkonsens
In der Folge ruhte auch der Rechtsstaat mit seinen unabdingbaren checks und balances zur Sicherung gegen Machtkonzentrationen im Wesentlichen nicht mehr auf einem moralischen Grundkonsens, der trotz Hindernissen Kompromisse ermöglicht. Stattdessen stoppen mehr und mehr Blockaden gerechte Lösungen. Kompromisse gelten vor allem als falsche Konzessionen zu Lasten der eigenen Position.
Die aktuell notwenige Transformation in eine klima- und ressourcenangemessene Wirtschaft und Politik, die nicht nur den Schutz der Individuen durch den Rechtsstaat, sondern auch einen politischen Willen der gesamten Gesellschaft zum gemeinsamen Handeln braucht, wird so unterminiert. Das verstärkt in der Öffentlichkeit die Angst vor den Folgen eines unbewältigten Klimawandels und öffnet verärgerte Bürgerinnen und Bürger für antidemokratische Polemiken. Wenn demokratische Politik wegen der in sich aufgespaltenen Gesellschaften keine überzeugenden Antworten auf die anstehenden Herausforderungen mehr findet, verliert sie das Vertrauen eben dieser Gesellschaften.
Diese Entwicklung erleben wir in Deutschland, aber auch in der europäischen Union, einer zunächst großartigen Erfolgsgeschichte nach dem Horror von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Ihr machen die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten und das Erstarken rechtsextremer Bewegungen im Innern, insbesondere in sog. illiberalen Demokratien wie in Ungarn allerdings inzwischen deutlich zu schaffen.
4. Völkische Gemeinschaft statt demokratischem Grundkonsens
Dabei treten Rechtsextreme ihrerseits als wahre Kämpfer für eine, wie sie sagen, illiberale Demokratie auf, für die sie als Vertreter des „Volkes“ im Gegensatz zu den verdächtigten liberalen Eliten und den sog. etablierten Altparteien stünden. Sie machen die wörtliche Bedeutung des Begriffs der Demokratie als „Volksherrschaft“ für sich geltend, beziehen sich jeweils auf ihr eigenes Volk und nehmen damit eine völkische Position aus dem 20. Jahrhundert wieder auf, die dem Nationalsozialismus zugrunde lag und ein einheitliches Volk behauptet.
Damit verneinen sie die Wirklichkeit unserer Gesellschaften, wie sie wirklich sind, und unserer wertegeleiteten pluralistischen Demokratie. Denn das deutsche Volk ist wie alle modernen Völker kein einheitlicher Körper, sondern in sich vielfältig, mit legitim unterschiedlichen Interessen, ideellen Zielen, materiellen Potenzialen, Traditionen, Herkünften und Gemeinwohlvorstellungen. Wer diese empirische und zugleich verfassungsmäßig gesicherte Pluralität zunächst verbal und, sofern die Macht es erlaubt, dann auch politisch und juristisch in ein homogenes, womöglich biologisch-rassistisch definiertes Volk zusammenschmieden will, bereitet den Weg aus der Freiheit in die Diktatur. Sie zielt auf Ausgrenzung alles dessen, was nach diesem Verständnis „volksfremd“ ist.
Björn Höcke, der sich öffentlich bewusst auf die nationalsozialistische SA Losung „Alles für Deutschland“ beruft, hat dementsprechend als eines seiner ersten Ziele nach den Wahlen in Thüringen bereits angekündigt, das Bildungsprinzip der „Inklusion“ verschiedener Kinder zugunsten der Aussortierung jener abzulösen, die aus verschiedenen Gründen die gemeinsame Erziehung behindern und nicht zum deutschen Volk gehören sollen. Die Deportationsfantasien in der Potsdamer Villa, die glücklicherweise so viele aufgeschreckt und die Demonstrationen für unsere Demokratie ausgelöst haben, sind eine logische Konsequenz dieses Grundverständnisses von völkischer Demokratie, dem wir nach dem Nationalsozialismus aus gutem Grund klar den Abschied gegeben haben. Eine Besucherin des letzten Brandenburger AfD Parteitags im April formulierte dagegen: Demokratisch ist was dem deutschen Volk dient.
Aber nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und darüber hinaus gewinnt dieses Verständnis nun erneut bedrohlich an Attraktivität. Angesichts dramatischer Ungleichheiten nicht nur innerhalb unserer Gesellschaften, sondern auch global zwischen und innerhalb von Nord und Süd und einer tief gehenden Verunsicherung darüber, ob und wie die eigenen Lebenschancen verwirklicht werden können, liegt es für viele Menschen nahe, sich im Lebenskampf gegen Wettbewerber abzuschotten.
Deshalb haben nationale und rassistische Ressentiments und Vorurteile Hochkonjunktur und befördern eine Festungsmentalität, die sich auch über nationale Grenzen hinweg vor allem gegen Migration auf die gesamte Europäische Union beziehen kann, ohne auf innereuropäische Rivalitäten zu verzichten. Freilich zeigt der Streit zwischen Marine le Pen, die ihre Partei vom militant klingenden „Front National“ zum „Rassemblement National“ umgetauft hat, um sie in Frankreich wählbar zu machen, dass die Deportationsfantasien ihrer rechtsextremen deutschen Schwesterpartei unter Alice Weidel nicht nur ihre französische „Normalisierung“ stören, sondern womöglich auch alte Ängste gegenüber Nazideutschland wieder wachrufen.
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Rechtsextremen erfährt mithin ihre Grenzen, wenn sie nicht mehr als Underdogs gegenüber dem gemeinsamen Feind der verunglimpften demokratischen Parteien zusammenhalten können, sondern an Macht gewinnen und sich den nationalistischen Ressentiments und historischen Erfahrungen, die sie im Inneren gegeneinander hegen, konfrontieren müssen.
Dass es ein furchtbarer Irrweg ist, das demokratische Versprechen politischer Gleichheit gegen die soziale und ökonomische Ungleichheit eines ungeregelten Kapitalismus auf den Spuren der faschistischen Erzählung, d.h. der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft einzulösen, wissen wir historisch. Aber wir stehen vor der Herausforderung, diese erneute Versuchung abzuwehren und zugunsten positiver demokratischer Erfahrungen zu überwinden.
Ich habe damit eine Begründungslinie nachgezeichnet, die in die liberalen Demokratien des Nordens führt. Aber im globalen Süden, insbesondere in Afrika, z.T. auch in Lateinamerika hat die Demokratie ja auch einen immer schwereren Stand.
III. Entkolonialisierung und Demokratie im globalen Süden
In Afrika etwa sind wir in den letzten Jahren Zeugen eines dramatischen Ansehensverlusts der früheren Kolonialmacht Frankreich geworden, insbesondere in der südlichen Sahelzone und in Westafrika. Acht Militärputsche gab es seit 2020, zweimal in Mali, zweimal in Burkina Faso, in Gabon, im Tschad und zuletzt in Niger, das die EU für eine stabile Demokratie gehalten hatte. Sie haben nicht nur die Franzosen gezwungen, mit ihrem Militär ihre ehemaligen Kolonialländer nach deren Putschen zu verlassen, sondern zugleich viel öffentliche Unterstützung vor allem von dortigen jungen Bürgern erhalten. Trotz aller Notwendigkeit, die Einzelfälle zu sehen, gilt doch: Ganz offensichtlich hat die französische postkoloniale Politik, die für den Westen stand und steht, die Demokratie dort nicht populär gemacht. Sie wurde als Kooperation eigener noch aus der Kolonialzeit stammender korrupter Eliten mit Frankreich zur Ausbeutung der eigenen Rohstoffe und Wirtschaft wahrgenommen, ohne die afrikanischen Gesellschaften wirklich daran zu beteiligen.
Ebenso hat die Migrationspolitik der Europäischen Union den Westen seit Jahren zunehmend unbeliebt gemacht. Sie handelt gegen die Interessen der Afrikaner, indem sie auf sie z.B. mit der Politik der sog. sicheren Drittstaaten die eigene Verantwortungsübernahme für die Regelung von Migration abzuschieben versucht und zu Ungunsten der afrikanischen Wirtschaftsentwicklung und z.B. gegen das ausdrückliche Freihandelsziel der Westafrikanischen Union das Hochziehen von Mauern und Zäunen verlangt, um der EU die Migranten vom Halse zu halten. Sofern die EU ihre bornierte Migrationspolitik fortsetzt, diskreditiert sie die westlichen Demokratien, bereitet China und Russland immer erfolgreicher den Boden und wundert sich, dass afrikanische Staaten keine Solidarität gegen Putins Überfall auf die Ukraine zeigen.
Das heißt aber nicht, dass afrikanische Gesellschaften kein Interesse an der Demokratie in der westlichen Tradition haben, die den verfassungsmäßigen Schutz der individuellen Freiheit als ihren Kern hüten und in dauernde Balance mit dem Gebot der Gerechtigkeit bringen muss. Wir werden aber im globalen Süden immer mehr Verbündete, die wir für unsere Demokratie dringend brauchen, verlieren, wenn wir nicht den schmalen Pfad finden und gehen, auf dem wir die nationalistisch-kollektivistischen sog. „Befreiungsbewegungen“, die in den Militärregimen den Keim der Diktaturen in sich tragen, einerseits demokratisch kritisieren, aber zugleich andererseits auf die berechtigte Kritik an westlicher postkolonialer Politik konstruktiv antworten und Schaden wieder gut zu machen versuchen.
IV. Hoffnungszeichen für gemeinsame Verantwortung in der Demokratie und Notwendigkeit, den Grundkonsens zu organisieren
1. Ermutigende Zeichen für die Demokratie
Gegen den bedrückenden Rückgang von Demokratien gibt es immerhin seit Kürzerem Gegentendenzen:
· In Brasilien hat im Oktober 2022 Lula da Silva die Wahl gegen Jair Bolsonaro gewonnen und eine Zerstörung der Demokratie verhindert.
· In Polen hat im Herbst 2023 wieder eine liberal-demokratische Koalition gegen eine autokratische PiS gewonnen.
· In Deutschland sind in beeindruckenden Demonstrationen in Ost- und Westdeutschland Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie auf die Straße gegangen.
· In Russland haben nach dem gewaltsamen Tod Nawalnys Tausende mutige Russen gegen die Drohungen der Regierung für ihn Blumen niedergelegt.
· Im März 2024 fand im Senegal nach erheblichen Unruhen ein friedlicher Regierungswechsel statt.
· In der Türkei hat es in den Kommunalwahlen zu Ostern 2024 einen atemberaubenden Sieg der sozialdemokratischen CHP zugunsten der türkischen Demokratie gegeben, den Präsident Erdogan immerhin sofort anerkannt hat.
Es besteht also weiterhin weltweit der Wunsch nach Demokratie und Freiheit in gemeinsamer Verantwortung.
Wir müssen dafür allerdings als Gesellschaft und als Politik mutig, hartnäckig und fantasievoll eintreten, ja kämpfen. Und wir müssen sie in einer komplizierten Welt weiterentwickeln, zugunsten von mehr und gut durchdachter Partizipation, vor allem, aber nicht nur auf kommunaler Ebene. Erforderlich ist, dass viel mehr Menschen ihre demokratische Selbstwirksamkeit erfahren können. Die kommunale Ebene hat weltweit an Bedeutung gewonnen, immer mehr Menschen leben in Städten, sie bieten die Chance für eine lösungsorientierte demokratische Politik, die ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern hilft, die Politik zu verstehen und damit wieder als legitim erfahren zu können.
Schließlich müssen die Unternehmen gemeinsam mit Politik und Zivilgesellschaft für die gleiche politische Freiheit Verantwortung übernehmen, wie der frühere UN Generalsekretär Kofi Annan das bereits um die Jahrtausendwende mit der Gründung des Global Compact gefordert hat. Milton Friedmans „The business of business ist business!“ reicht nicht mehr. Es liegt auch am Wirtschaftssektor, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich wieder mehr schließt.
2. Grundkonsens deliberativ organisieren
Vor der inzwischen breiten Palette neuer Partizipationsformen möchte ich mich am Ende auf einen funktionalen Vorschlag beschränken, der nicht nur auf der kommunalen Ebene zum Tragen kommen kann. Demokratie kann unter der Bedingung von inzwischen weltweit entwickelten pluralistischen Gesellschaften nicht mehr einfach als „Volksherrschaft“ verstanden werden. Ein homogenes Volk, das als einheitlich handelndes Subjekt herrschen könnte, ist eine, wie wir sahen, höchst gefährliche Illusion, die den Keim von Diktatur und Faschismus in sich trägt. Auch Wahlen allein beweisen keine Demokratie.
Stattdessen brauchen unsere vielfältigen Gesellschaften eine pluralistische Demokratie, die das entscheidende normative Grundversprechen der gleichen Chance auf Freiheit und Würde jedes Individuums zu sichern versucht, indem sie Machtkonzentrationen verhindert, die die gleiche Freiheit aller Menschen rechtlich oder de facto (also auch ökonomisch) unterdrücken. Aber verhindern reicht nicht. Es braucht, zumal in Zeiten großer Herausforderungen von Transformation, auch neue positive Regelungen für gemeinsames freiheitlich verantwortetes Handeln.
Ernst Fraenkel, einer der wichtigsten deutschen Theoretiker der pluralistischen Demokratie im vergangenen Jahrhundert, hat analytisch begründet, dass wir zur Lösung unserer legitimen politischen Konflikte immer erneut einen Grundkonsens über die Werte finden müssen, die uns allen jenseits aller Konflikte so wichtig sind, dass wir ihnen über Gegensätze hinweg Geltung verschaffen wollen. Er erwartete, dass diese konstitutiven Werte unserer Verfassung Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in den gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen und durch sie hindurch immer wieder aktualisiert und lebendig erhalten werden. Als langjähriger Syndikus der Gewerkschaften in der Weimarer Republik dachte er dabei z.B. an Tarifverhandlungen.
Aber dieser Grundkonsens, das lehrt uns die historische Erfahrung, entsteht eben nicht “naturwüchsig“ aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und muss deshalb institutionell, wie Tarifverhandlungen, organisiert werden. Dafür eignen sich sog. Multi-Stakeholder bzw. Multi-Akteurs-Trialoge zwischen den funktional wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen: der staatlichen Politik, der organisierten Zivilgesellschaft und der Wirtschaft (Privatsektor). Zu einem zentralen Problem (in der Kommune etwa einer wichtigen Frage der Stadtentwicklung) präsentieren sie ihre unterschiedlichen Vorstellungen, begründen sie und wägen dann gegenseitig die Argumente, die jeweils für die „Verallgemeinerungsfähigkeit“ (Habermas) bzw. für das Gemeinwohl in dieser Frage sprechen. Die Gespräche und Aushandlungen sind vertraulich nach der Chatham House Rule, Argumente können und sollen veröffentlicht werden, aber nicht deren Vertreter, um die Freiheit für gemeinsame Formulierungen zu wahren.
Im Unterschied zum Parlament, dessen Aufgabe das ebenfalls sein könnte, bieten die Vertraulichkeit und die Abwesenheit des Zwanges, zu einer bestimmten Entscheidung zu kommen, die Möglichkeit, ohne „Fensterreden“ die Tragweite der Begründungen und Argumente in der Vielfalt gegensätzlicher Perspektiven zu prüfen. Wir haben gegenwärtig in unseren Demokratien dafür keinen Ort. Die Erfahrung mit solchen „Multi-Stakeholder- Trialogen“, u.a. in den von uns geschaffenen neuen „Kommunalen Entwicklungsbeiräten“ zeigen aber, dass sie einen Grundkonsens zu bereiten und zu formulieren vermögen. In dessen Rahmen kann legitimierte Politik die Einzelentscheidungen dann durchaus unterschiedlich, aber so treffen, dass sie insgesamt gemeinwohlorientiert und nachhaltig ausfallen.
Solche Grundkonsens-Trialoge, die die Wirtschaft in die gemeinsame Verantwortung einbeziehen, bieten die Chance, die Dynamik kapitalistischer Marktwirtschaft zu nutzen und ihr zugleich die Mit-Sorge für die demokratische Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger in ihrer Freiheit abzuverlangen. Die Wirtschaft muss diese unvermeidliche Spannung innerhalb unserer Demokratie mit austragen.
Die Erfahrung zeigt, das kann gelingen und unseren Demokratien ganz neue Chancen eröffnen.