Den Nebel lichten – Das Kolloquium zum 58. Theodor Heuss Preis 2023
„Alle Kreter sind Lügner“, soll Epimenides der Kreter gesagt haben. Und schon diese Aussage macht klar; so einfach ist das nicht mit Lüge und Wahrheit. Es bedarf nicht unerheblicher Anstrengungen, um das zu tun, was sich die Theodor Heuss Stiftung 2023 vorgenommen hat: „Zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden – Chance der Demokratie“. Die Lüge – oder vielleicht eher ein diffuser Nebel – will beiseitegeschoben werden, um die Wahrheit, die eine ganz eigene genuine Kraft hat, zu erkennen.
Leonid Wolkow, russischer Exilpolitiker und Theodor Heuss Preisträger, wird dazu im Laufe des Nachmittags Stellung nehmen, doch zunächst begrüßt der Vorsitzende der Stiftung, Ludwig Theodor Heuss, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur Nachmittagsveranstaltung der Stiftung im Hospitalhof in Stuttgart. An diesem Freitag, 12. Mai 2023, ist das traditionelle Kolloquium vor der Preisverleihung der Ort, um die Preisträgerinnen und Preisträger – und sich untereinander – kennenzulernen und zu vernetzen. Von dieser Möglichkeit machen auch die Schülerinnen und Schüler vom Birklehof und von Schloss Salem Gebrauch, die sich intensiv auf die Veranstaltung vorbereitet hatten.
Was ist nun die Wahrheit? Und was ist eine Lüge? Die philosophische Dimension des Themas liegt auch an diesem Nachmittag auf dem Tisch. Christopher Gohl, der seit 2012 am Weltethos-Institut an der Universität Tübingen zur Entstehung und Wirkung von Werten forscht, wird daher durch die spätere gemeinsame Gesprächsrunde führen. Doch zunächst wird Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, stellvertretende Vorsitzende der Stiftung, mit einem Impuls in das Thema einführen. Sie fragt: Kann es Politik ohne Lügen geben? Die ehemalige Bundesjustizministerin erinnert an den politischen Vordenker Nicolo Machiavelli, der die Lüge machtpolitisch legitimiert hat. Berühmte Beispiele werden aufgerufen – Massenvernichtungswaffen im Irak etwa oder die fehlende Absicht, eine Mauer zu bauen. Im „postfaktischen Zeitalter“ allerdings hat die Lüge eine neue Dimension erreicht, vor allem dank der noch leichteren (Weiter-)Verbreitungsmöglichkeiten. Das Streben nach Wahrheit, so Leutheusser-Schnarrenberger, ist dennoch kein Anachronismus in einer digitalen Welt. Denn Evidenz schaffe Vertrauen in einer Demokratie, Vertrauen sei weiterhin eine wichtige Währung in der Gesellschaft.
Für diese Evidenz setzen sich die Preis- und Medaillenträger ein: Leonid Wolkow, der in seinem Buch „Putinland“ lehrreich die Strategien von Putin im Informationskrieg beschreibt; CORRECTIV, eine gemeinnützige & unabhängige Redaktion, die strukturelle Missstände, Korruption und unethisches Verhalten aufdeckt; die Organisation Facts for Friends, die Faktenchecks von glaubwürdigen Quellen sammelt; Hate Aid, die Organisation, die Betroffenen bei Hass und Hetze im Netz zur Seite steht; sowie die Journalistin Marcela Turati, die unter Lebensgefahr über die Opfer des Kriegs gegen die Drogen in Mexiko recherchiert und damit den „Desaparecidos“ ein Gesicht gibt.
Das Schreckliche – so resümiert Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – bietet die Basis zum Machterhalt. Dem tritt die Theodor Heuss Stiftung entgegen mit diesem Jahresthema, das Christopher Gohl nachfolgend mit den Ausgezeichneten diskutiert.
Das Eingangsstatement der Runde übernimmt Leonid Wolkow. Er hat als Jugendlicher in Dresden gelebt, das erklärt sein hervorragendes Deutsch. Für ihn sei es ein wenig komisch, heute über das Problem von Lüge und Wahrheit in der Demokratie zu sprechen – da er ja in Russland keine erlebt hätte, macht er auf seine ambivalente Rolle aufmerksam. Dafür hat er seit langem viel Erfahrungen machen können mit den Lügen des Putin-Regimes. Putin kenne den Sowjetmenschen, der von den Entwicklungen der 1990er Jahre überfordert gewesen sei. Die Angst vor dieser Zeit halte ihn im Amt. Die sogenannten Trollfarmen, in denen systematisch daran gearbeitet werde, die Internetkommunikation zu beeinflussen, seien Ausdruck von Putins Vernebelungsstrategie. Alles sei eben nicht so eindeutig in Putins Russland, es verbreitet sich das Gefühl, man würde ohnehin nie die ganze Wahrheit erfahren. Mit dieser sich durchsetzenden Einstellung in der Bevölkerung, sinke die russische Gesellschaft in politische Apathie herab.
Ähnlich handfest wie Wolkow, aber in ganz anderen Bedingungen arbeitet David Schraven von CORRECTIV. Der gelernte Journalist, der mit Correctiv investigativ recherchiert und Falsches richtigstellt, nimmt einen Gedanken von Christopher Gohl auf. Gohl hatte Immanuel Kant und den Zusammenhang von Öffentlichkeit und Gerechtigkeit aufgemacht. Schraven: Auf dem Weg zur Europawahl und vor dem Hintergrund einer AfD auf dem Weg zur Mehrheit in Thüringen bestehe leider keine Zeit mehr für philosophische Überlegungen zwischen richtig und falsch. Jetzt müsse da widersprochen werden, wo gelogen wird.
Auch aus einem Kriegsgebiet, jedoch keinem virtuellen, berichtet die mit einer Medaille ausgezeichneten Journalistin Marcela Turati. Sie muss sich als Kriegskorrespondentin im eigenen Land in Mexiko begreifen. Seit 2006 wird dort ein sogenannter Krieg gegen Drogen geführt. Ähnlich wie in Putins Regierungspropaganda wird behauptet, dass ein ominöser Kampf stattfinde. Diesem Kampf fielen jedoch viele Unschuldige zum Opfer. Die Wahrheit zu sagen – so Turati – ist in Mexiko ein Kampf ums Überleben.
Valerie Scholz von Facts for Friends hält der Lüge das Objektivitätsgebot des Journalismus entgegen, ihr geht es um überprüfbare Tatsachen. Doch auch sie werden, wie sie bemerkt, immer häufiger in Zweifel gezogen. Sie befürchtet, dass die gemeinsame gesellschaftliche Basis der Tatsachenverständigung immer weiter schrumpft: aus Äpfeln seien für manche schon Birnen geworden. Dabei betont sie, dass die Wahrheit die Grundlage für Demokratie sei. Müssen wir gegen die Desinformation gewinnen? Vielleicht gar nicht. Scholz setzt auf Resilienz und Vertrauen, damit die Gesellschaft weiter zusammenarbeitet.
Auch HateAid kämpft gegen diese Unstimmigkeiten, gegen das Ungefähre, aber es kommt noch ein Aspekt hinzu: die Beleidigung und Beschmutzung von Menschen. Anna-Lena von Hodenberg von HateAid macht klar, dass viel zu viele Menschen durch digitale Gewalt unter Druck geraten sind. Es kann etwa die Unterstellung einer heimlichen Affäre oder einer pädophilen Neigung sein, mit der Menschen aus dem demokratischen Diskurs, aus dem Netz oder aus einem Amt gedrängt werden. Silencing wird diese leider erfolgreiche Methode genannt. Dabei ist es nach von Hodenbergs Einschätzung gar nicht wichtig, einen langwährenden Gerichtsprozess zu gewinnen. Für die Opfer muss es erst einmal ein offenes Ohr für diese Erfahrung geben. Viele Betroffene würden von Behörden immer noch zurückgewiesen.
Es ist also die Sorge für die Demokratie als Lebensform, die alle Beteiligten vereint und bei der befürchtet werden muss, dass sie von der Lüge unterminiert wird. Es geht um nicht weniger als das Ethos eines demokratischen Zusammenlebens, dem Gefahr durch die Lüge droht. In der anschließenden Diskussion ging es unter anderem um die Frage, wem das nutzt. Wolkow lieferte Einsichten in Putins Russland: Korruption, Macht und Lüge seien das herrschende Triumvirat, das sich in den 1990er Jahren entwickelt habe. Mit der Korruption und dem sagenhaften Aufstieg einiger Oligarchen, denen im Westen gewissenlos die Tür geöffnet worden sei, seien die Bedingungen geschaffen worden, um der Herrschaft der Lüge Raum zu geben. Diese Herrschaft dient dazu, die Herkunft des Reichtums zu verschleiern. Mit der Macht der Lüge, so Wolkow, werde nicht nur politische Macht gesichert, sondern auch die Herkunft der ungeheuren Vermögen verdeckt.
Müssen Journalisten sich denn in einer solchen Situation so verhalten, dass sie ausgewogen berichten und auch noch den abstrusesten Wortmeldungen Raum geben? Wolkow ist sich sicher: dieses Postulat der Neutralität der Berichterstattung habe in Russland erst die Diktatur ermöglicht. Gerade das umfassende Abbild einer wirren und schmutzigen Diskussion habe in Russland die Grundlage für die Abwendung der Gesellschaft von politischen Prozessen geliefert. Negativ gewendet seien Journalisten zumindest dafür da, in dem Schmutz mit dem geworfen werde, immer noch zu schauen, ob nicht doch Diamanten darunter seien. Das Diktum des langjährigen Trump-Beraters Steve Bannon „Flood the zone with shit“ lässt grüßen.
Die Hate-Aid-Gründerin von Hodenberg war sich da ihrer beruflichen Position sicherer. Sie hat die Seiten gewechselt und ihre journalistische Karriere aufgegeben – wegen des Erfolgs der AfD. Sie wollte nicht mehr nur berichten und das journalistische Neutralitätsgebot hochhalten, sondern sich auch aktiv positionieren. Ihr Gedanke: Wenn sich die Demokratie verändert, dann könnten eben aus Journalisten auch Aktivisten werden.
CORRECTIV-Gründer Schraven sieht die Aufgabe des Journalismus darin, eben nicht nur einen bildlich gesprochenen Müllhaufen den Lesenden hinzulegen, sondern darüber zu sprechen, wie dieser Haufen entstanden ist. So argumentierte auch Turati. Es sei wichtig, dass Journalisten nicht vergessen zu erklären, was wichtig sei und warum es wichtig sei.
Dabei – so warf Gerhart Baum, Theodor Heuss Preisträger 2008, in die Diskussion ein – sollten nicht das Internet oder Social Media als alleinige Schuldige für die Verbreitung von Lügen verantwortlich gemacht werden. Dies habe es in der jüngeren deutschen Geschichte eben auch nicht gebraucht, um ein ganzes Volk gefügig zu machen. Gesine Schwan erinnerte daran, dass alle Anwesenden mit ihrer Arbeit einen Beitrag zum Kampf für die Durchsetzung von Menschenrechten leisten würden. Christopher Gohl wählte die Perspektive des Sisyphos, um einen Schluss aus der Diskussion zu ziehen: Demokratie sei ein ewiges Sprechen und damit auch ein Ringen um die Wahrheit, das nie aufhört.
Die Zusammenfassung des Nachmittags übernahm Reni Maltschew, stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung. Sie brach die Erkenntnisse herunter auf ihr persönliches Erleben in Brandenburg, wo vor allem Kommunalpolitiker mittels gezielter Kampagnen unter Einsatz von Lügen sabotiert und aus dem Amt katapultiert würden. Maltschew erinnerte daran, dass das Internet keine Naturgewalt sei und – wie die Lügen, die uns bedrohen – menschengemacht ist. Sie forderte das Überwinden der Apathie gegenüber den Lügen und rief zur Unterstützung der Opfer auf. Denn wer zwischen Wahrheit und Lüge nicht unterscheidet, verspielt die Demokratie – und gefährdet Menschen auf dramatische Weise.
Bericht Matthias Lambert
























