Trauerrede für Hildegard Hamm-Brücher

Trauerfeier für Hildegard Hamm-Brücher am 19.12.2016 in der Lukaskirche in München

 

Trauerrede von Bundesinnenminister a.D. Gerhart Baum

(Es gilt das gesprochene Wort!)

 

Lange Jahre waren Hildegard Hamm-Brücher und ich durch Freundschaft und Politik verbunden. Über ihr politisches Lebenswerk will ich reden und darüber, was sie als Politikerin für unser Land und für viele Menschen bedeutet hat.

 

Was bedeutet es, wenn ein Taxifahrer am Münchner Bahnhof, eine junge Krankenschwester in Köln und viele andere in diesen Tagen Betroffenheit über den Tod von Hildegard Hamm-Brücher (HHB) zum Ausdruck bringen, sowie Respekt und Dankbarkeit für ihre politischen Lebensleistung. HHB ist vielen in unserem Lande ein Beispiel für politische Gradlinigkeit, für den Mut, Überzeugungen auch treu zu bleiben, wenn es stürmt. „Sie war anders als die meisten Politiker“, sagte mir ein Student. In diesen Reaktionen auf ihren Tod drückt sich eine Sehnsucht nach Politikern aus, denen man heute vertrauen möchte – nach Politikern die die gefährdeten demokratischen Werte in unserem Land, in Europa und in der Welt glaubwürdig verteidigen. Die Menschen sahen in HHB eine moralische Instanz. Unser Land hat davon nicht viele. Sie verkörperte Haltung und Würde.

 

Für ihre Ziele hat HHB ein Leben lang gekämpft. Staunend vergegenwärtige man sich, welches Maß an Lebensenergie in dieser Frau gesteckt haben muss. Im Grunde hat sie mehrere Leben gelebt. 38 Jahre war sie Volksvertreterin, eine Zeit lang in Regierungsämtern. 7o Jahre lang war sie politisch aktiv. Aber nicht nur durch ihre Ämter hat sie politisch gestaltet. Der unmittelbare Kontakt mit Bürgerinnen und Bürgern war ihr wichtig – in unzähligen Begegnungen, in ihren Reden, in ihren zahlreichen Büchern, mit der Gründung von Stiftungen, mit der Unterstützung vieler Initiativen. Sie war unermüdlich. Bis in das hohe Alter hinein hat sie ihre noch vorhandene Kraft dazu genutzt, Menschen für eine „gelebte Bürgergesellschaft“ zu motivieren und zu ermutigen. Sie folgte der Mahnung von Theodor Heuss, dass das Grundgesetz keine „Glücksversicherung“ ist, sondern täglich neu verteidigt werden muss. Wir dürfen es uns nicht bequem machen, mahnte Heuss, und HHB hat es sich wahrlich nicht bequem gemacht. Auf politische Netzwerke hat sie sich kaum verlassen, sie hat zumeist selbstständig aus eigner Kraft gehandelt.

 

In ihrer Lebensbilanz von 2011 mit dem aussagekräftigen Titel „Und dennoch…Nachdenken über Zeitgeschichte – Erinnern für die Zukunft“ nennt sie zwei Ziele, die sie sich nach 1945 gestellt hatte: „Ich wollte dazu beitragen, daß Freiheit und Rechtsstaat zum Kraftquell einer demokratischen Staats- und Lebensform werden.“ Und sie fühlte sich denjenigen verpflichtet, die gegen den Naziterror Widerstand geleistet hatten.Sie wollte deren Vermächtnis an die nachfolgenden Generationen weitergeben.

 

Sie hatte als junge Frau in Dresden miterlebt, wie ihre geliebte Großmutter und zwei weitere jüdische Verwandte Opfer der Nazis wurde. Sie hatte Kontakte – für sie sehr gefährliche Kontakte – zu den Geschwistern Scholl und ihrer Gruppe. Ihr Professor, der die junge Studentin auch vor Verfolgung geschützt hatte, gab ihr den Rat, sich nicht zu gefährden, sondern die Überzeugungen der Widerstandskämpfer in eine neue Demokratie einzubringen.

 

HHB kämpfte in den Jahren nach dem Krieg gegen Geschichtsvergessenheit. Für sie waren die Männer des 20. Juli keine „Landesverräter“, für sie gab es auch keine „Siegerjustiz“. Sie fühlte sich 1945 nicht „besiegt“, sondern „befreit“, wie Richard von Weizsäcker dies in seiner großen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 zum Ausdruck brachte. Und dieses Erinnern geschieht bis heute sehr intensiv, und es stärkt unsere Demokratie. Für sie gab es keine Trennung von Geschichte und Politik. Sie wollte, dass aus Irrtümern dauerhaft gelernt wird. Das war in der Nachkriegszeit ein langer und schwieriger Weg, auch in der FDP.

 

HHB hatte ihren ersten „Broterwerb“ als Journalistin für Politik bei der „Neuen Zeitung“ in München unter den Fittichen von Erich Kästner, aber ihre Lebensweiche wurde in eine andere Richtung gestellt – durch Theodor Heuss. Er riet ihr nach einem langen Gespräch, in die Politik zu gehen. Und das war ein guter Rat. Sie trat 1948 der FDP bei. „Verjüngt den Stadtrat, wählt HHB“ hieß es hier in München auf den Plakaten. Im Bayrischen Rundfunk versprach sie ihren Wählern, nicht für das Wohl und Wehe einer Partei, sondern für das Wohl der Menschen einzutreten.

 

Nach einem Jahr in Harvard, das ihr eine ganz neue Weltsicht eröffnete, wurde sie in den Bayrischen Landtag gewählt. Sie war vielen unbequem, eine gefürchtete und angefeindete „Landtagsemanze“, wie ihre Gegner sie nannten. Sie krönte ihr Engagement in der Landespolitik mit einem erfolgreichen Volksbegehren zugunsten der christlichen Gemeinschaftsschule gegen das „konfessionelle Apartheidsystem“. 1962 setzte eine „Nazi-Clique“ in der FDP – so sagte sie – sie auf den aussichtlosen Platz 17 der Bayrischen Landesliste. Der Wähler „häufelte“ sie – nach einer bundesweiten Solidaritätsaktion, an der auch meine Freunde und ich teilnahmen – nach vorn. Sie wurde gewählt und stand für eine sich erneuernde liberale Partei. Sie war im Übrigen immer eine Verfechterin der „offenen Zweitstimme“. Wir sollten darüber nachdenken, ob dieser bayrische Wahlmodus uns allen helfen könnte, die immer stärker werdende Distanz der Menschen zu den Parteien zu mindern.

 

HHB war zeitlebens eine durch und durch überzeugte Liberale. 54 Jahre gehörte sie der FDP an, danach bezeichnete sie sich als „freischaffende Liberale“. Das war sie in gewisser Hinsicht aber schon immer. Sie entzog sich oft einer falsch verstandenen Parteidisziplin, sie war keine Parteisoldatin. Sie berief sich auf die grundgesetzlich garantierte Gewissensfreiheit der Abgeordneten. Oft schwamm sie – wie sie selbst sagte – „gegen den Strom“, aber sie wollte dabei „trotzdem hübsch aussehen“. Das erwiderte sie einem Journalisten, der sie gefragt hatte, ob sie die Bezeichnung „Grand Dame der FDP“ störe.

 

Sie gehörte zu den Reformliberalen des „Freiburger Programms“ von 1971, wie wir bei den Deutschen Jungdemokraten, der Jugendorganisation der FDP. Wir wollten die FDP verändern zu einer Partei mit sozialer Verantwortung, wir wollten das Grundgesetz mit Leben erfüllen. Wir wollten mit einer neuen Ost- und Deutschlandpolitik zu einer neuen Friedensordnung beitragen. Und wir wollten die Bürger-und Menschenrechte nach dem Prinzip der Menschenwürde verteidigen. Das alles wollten wir in einer neuen Koalition mit den Sozialdemokraten erreichen. Wir haben für diese Ziele auf Parteitagen gekämpft, gemeinsam mit Walter Scheel, Ralf Dahrendorf, Werner Maihofer, Karl-Hermann Flach und H.D. Genscher- in enger Verbindung zu Sozialdemokraten wie Willi Brandt, Helmut Schmidt und Jochen Vogel, um nur einige zu nennen.

 

HHB’s Feld war vor allem die Bildungspolitik. Sie war eine der herausragenden Bildungspolitikerinnen unseres Landes. Ein aufrüttelndes Buch des Pädagogen Georg Picht von 1964 „Die Bildungskatastrophe“ veranlasste sie gemeinsam mit Ralf Dahrendorf für ein „Bürgerrecht auf Bildung“ einzutreten. Bildungsgerechtigkeit für die benachteiligten Kinder einkommensschwacher Familien war das Ziel. Bildungspolitik sollte zu einer gesamtstaatlichen Aufgabe und Verantwortung werden. 1967 wurde der hessische Kultusminister Ernst Schütte auf sie aufmerksam und holte als Staatssekretärin in sein Ministerium. 1969 wechselte sie als Staatssekretärin in das Bundesbildungsministerium.

 

HHB war zeitlebens eine Kämpferin für die Gleichberechtigung. An ihrem Lebenslauf lässt sich ablesen, wie schwer dieser Kampf war. Am Anfang ihrer politischen Aktivitäten musste sie sich noch rechtfertigen, dass eine Frau überhaupt politisch tätig wurde. Sie hat sich unentwegt für Frauen in den unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt, u.a. auch bei den „Münchner Philharmonikern“. Sie war ein überzeugendes und ermutigendes Beispiel für viele Frauen. Nachdenklich stellt sie fest, dass ihr zeitweiliger Ruf, zu sehr Prinzipienreiterin und Gesinnungspolitikerin zu sein, ein typisches Männerverdikt gewesen sei. Auch ich meine, mit Männern wäre man anders umgegangen.

 

Als Staatsministerin im Auswärtigen Amt ab 1976 hat sie 6 Jahre lang maßgeblich dazu beigetragen, dass die Auswärtige Kulturpolitik ein neues Deutschlandbild vermittelte.

 

Aber auch Niederlagen und Demütigungen hatte HHB in ihrem politischen Leben zu verkraften.

 

1982 war das Jahr der „Wende“, des umstrittenen Koalitionswechsels der FDP. HHB hat in einer denkwürdigen Rede vor dem Deutschen Bundestag begründet, warum sie dem Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Schmidt nicht zustimmen konnte. Beide haben wir geredet – im Namen der 18 Kollegen der FDP-Fraktion, die diesen Weg nicht mitgehen wollten. Wir haben beide vor dem Vertrauensverlust gewarnt, den die politische Kultur nach einer vorher eindeutigen Wahlaussage erleiden würde. HHB sprach vom „Odium des verletzten politischen Anstands“. Beide verloren wir unsere Ämter und hatten es künftig in der FDP schwer. Wir zogen uns in die kleine weiße Villa gegenüber dem Bundeshaus zurück und bildeten unser eigenes kleines liberales Biotop, mit einigen wenigen Vertrauten, zu denen vor allem auch Burkhard Hirsch zählte. 1984 verhinderten wir gemeinsam mit ihm in der FDP die Parteispendenamnestie. Wir haben im Gegensatz zu einigen unserer politischen Freunde – überzeugt von der Notwendigkeit der Existenz einer liberalen Partei – die FDP nicht verlassen.

 

Noch einmal zog HHB als FDP-Politikerin öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. 1994 hatte die FDP sie für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen. Es ist jetzt müßig, die Gründe zu nennen, warum sie es nicht wurde. Sie hätte als Bundespräsidentin unserem Lande sicherlich gut getan. Dass sie es nicht wurde, hat sie geschmerzt, gerade weil sie dies wusste.

 

Im Jahre 2002 ist HHB nach einer Mitgliedschaft von 54 Jahren aus der FDP ausgetreten. Ich habe das bedauert, aber es aus ihrer Sicht auch verstanden. Die antisemitischen Agitationen eines stellvertretenden Vorsitzenden, von Teilen der Parteiführung viel zu lange geduldet, hatten sie tief verletzt.

 

Der Kontakt zu ihren Freunden in der FDP ist nie abgebrochen, auch nicht hier in Bayern. Sie hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sehr geschätzt. In den Gesprächen, die ich mit ihr führte, hat sie sich stets auch nach der „neuen“ FDP erkundigt, nach dem neuen jungen Vorsitzenden, Christian Lindner. Ihn wollte sie kennenlernen, und er hat sie besucht.

 

In den Jahren nach der Wende 1982 haben HHB und ich gemeinsam Reisen in Sachen Menschenrechte unternommen – u.a. in die DDR, zu den Bürgerrechtlern und zu den Aufrechten in der Evangelischen Kirche. In ihren Erinnerungen schreibt sie: „Der vorletzte Kirchentag fand 1988 in Rostock statt, unter der Leitung des mutigen Stadtpfarrers Joachim Gauck, der Zuversicht und Verbundenheit vermittelte.“

 

HHB war auch Ehefrau, Mutter, Großmutter. Sie sagte von ihrem Mann Erwin Hamm, dem sie 52 Jahre verbunden war, dass er ihr unbeirrbar und mit einem wunderbaren Humor ausgestattet stets Schützenhilfe geleistet habe. Sonst hätte sie beide Aufgaben gar nicht miteinander vereinbaren können. Ihre Kinder, vor allem Tochter Verena, waren ihr bis zum Schluss liebevoller Beistand.

 

Mit HHB verbindet mich eine vertrauensvolle enge politische Freundschaft – über viele Jahrzehnte. Sie war mir stets eine ermutigende, bisweilen auch kritische Ratgeberin. Ich bin HHB zutiefst dankbar. Bis zuletzt haben wir den Kontakt gehalten.

 

HHB hat uns Vermächtnisse hinterlassen. Zwei Beispiele möchte ich nennen:

Besonders wichtig ist die von ihr und Ernst Ludwig Heuss – dem Sohn von Theodor Heuss – gegründete Theodor-Heuss-Stiftung, mit der die Entwicklung unserer Demokratie kritisch begleitet und das demokratische Engagement der Bürger gefördert werden soll. Über vierzig Jahre war sie Vorsitzende. Jedes Jahr werden bis heute Menschen mit Preisen und Medaillen ausgezeichnet. Die ersten Preisträger waren „Aktion Sühnezeichen“ und der Pädagoge Georg Picht. Gewürdigt wurden immer wieder auch Initiativen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Wir werden diese Stiftungsaktivitäten ganz in ihrem Sinne fortführen.

 

Eine weitere wichtige Initiative ist das 1989 gesamtdeutsch gegründete Förderprogramm für Schulen und Schüler: „Demokratisch Handeln“.

In den Gesprächen der letzten Jahre zeigte HHB sie sich zunehmend beunruhigt über den Zustand unserer Demokratie. Zwar sah sie keine fundamentale Gefährdung unserer demokratischen Staatsordnung, aber sie beklagte besorgniserregende Entwicklungen. Jetzt sind die Krisen der Welt bei uns angekommen – wir sind mittendrin. „Eine ungesteuerte ökonomisch und digital zusammenwachsenden Weltgesellschaft“ – so beschreibt Jürgen Habermas die Lage. Viele Menschen reagieren mit Angst und Unsicherheit und entfernen sich von den Werten des Grundgesetzes. Sie haben Abstiegsängste und beklagen soziale Ungerechtigkeit.

 

HHB war überzeugt, dass wir nicht zuletzt aufgrund unserer Geschichte stark genug sind, uns wehren, zu wehren gegen Verdrossenheit gegenüber der Demokratie, gegen eine Demokratiemüdigkeit, gegen eine Verdrossenheit gegenüber den Parteien, die heute bis zur Politikerverachtung reicht und sich gegen die repräsentative Demokratie wendet. Wir müssen uns wehren gegen die Diskreditierung einer freien Presse und gegen die menschverachtenden Zusammenrottungen im internet. Wir sind auch stark genug, Angriffen auf die Menschenwürde durch neuen Rassismus, durch Fremdenfeindlichkeit und religiöse Intoleranz zu begegnen, wenn wir nur handeln wollen und auch zur Selbstkritik fähig sind. Wir sind nach dem Kriege mit den alten Nazis fertig geworden, warum sollte uns das nicht heute gegenüber ihren Nachfolgern gelingen.

 

HHB, eine große Liberale, eine beispielgebende Demokratin hat sich ihr Leben lang unermüdlich für das Gelingen unserer Demokratie eingesetzt. Setzen wir mit Entschlossenheit ihre Arbeit fort! Sie hat uns gezeigt, wie man das macht.

 

 

Mit großer Dankbarkeit nehmen wir heute Abschied von Hildegard Hamm-Brücher, von ihrer Herzlichkeit und von ihrer Überzeugungskraft – sie wird uns fehlen.