Preisträger 2016

2016 wurde kein Theodor Heuss Preis, jedoch 5, dem Preis ebenbürtige, Theodor Heuss Medaillen verliehen.

 

 

 

Clowns ohne Grenzen Deutschland e.V.

 

Wenn im Elend die Botschaft das Lachen ist

 

Ein Land des Lächelns können sie nicht plötzlich wieder schaffen. Aber ein paar Stunden der Freude vermögen sie durchaus herbeizuzaubern: die Clowns ohne Grenzen. Für ihre Auftritte suchen sie sich ein ungewöhnliches Publikum aus, nämlich Kinder in Krisengebieten, in Flüchtlingslagern, in Armutsregionen. Ihre Hilfe besteht nicht in Brot und Wasser, Kleidung und Medikamenten. Sie sorgen in freudloser Umgebung einzig und allein für gute Stimmung. Denn ihre Botschaft ist das Lachen. Der Clown als Helfer in der Not: Das ist wahrlich eine neue Dimension im Blick auf das Elend in dieser Welt.

 

Die Idee des freundlichen Spaßmachers, der mit seiner heiteren Kunst das mühevolle Dasein für kurze Zeit vergessen lässt, stammt von spanischen Kids. Dabei förderten sie ihre Vorstellungen in bedrückenden Zeiten zutage, nämlich während der grässlichen Balkankriege in den neunziger Jahren, als das neue Europa nach der Zeitenwende 1989/90 seine friedvolle Unschuld verlor. Diese Kinder von Barcelona drängelten so lange, bis sich ein Clown entschloss, in die abgekämpften Zonen zu ziehen. Humor gleichsam als Krisenintervention. Das Beispiel machte, erstaunlich genug, bald Schule. Inzwischen zählen zwölf Partnergruppen zu Clowns Without Borders International.

 

Der Verein Clowns ohne Grenzen etablierte sich in Deutschland im Jahr 2007. In der kurzen Zeitspanne seitdem konnten 23 Projekte verwirklicht werden. Nicht selten sind mit den Auftritten auch längere Workshops verbunden. Es gab Reisen nach Syrien, Indien, Sri Lanka, Nepal, Israel, Jordanien, Rumänien, Albanien, Georgien, Kenia, in die Ukraine, die Türkei und in den Iran. Mit ihren Aktivitäten konnten die Clowns weit über 200.000 Menschen erreichen, vor allem eben die ganz jungen, besonders empfindsamen. In diesem Jahr stehen auf dem Programm Istanbul, die Insel Lesbos und Bolivien. Vor allem aber auch Deutschland als Brennpunkt der Flüchtlingskrise in Europa. Etwa 80 bis 100 Auftritte in Lagern und Unterkünften hat sich die Vereinsführung vorgenommen. Aber vielleicht werden es noch ein paar mehr, weil die Anfragen nach den lustigen Gesellen sich häufen. Warum auch nicht, denn mit einer Portion Fröhlichkeit hat sich die Flüchtlingskrise in Deutschland bislang nicht ausgezeichnet.

 

„Was am meisten fehlt, ist das Lachen“, definiert der Vorsitzende Alexander Strauß ebenso klar wie knapp die Ziele des Vereins. Aber zu Späßchen aufgelegt zu sein, zumal vor traumatisierten Menschen in krisengeschüttelten Daseinslagen, ist keine einfache Sache. Daher bemüht sich die Initiative um ein hohes Maß an Professionalität. Das beginnt damit, dass die Spaßmacher als Clowns, Artisten oder Musiker beruflich schon lange in diesem Bereich tätig sind oder sich individuell darin fortgebildet haben. Die Reisen werden lange und genau geplant, mit Kenntnis der dortigen Gesellschaften und Kulturen. Und bevor ein Team, meist zwischen fünf und neun Personen, auf die Reise geht, gibt es sein Programm daheim vor zwanzig Leuten mit einschlägiger Erfahrung in einer Testvorstellung zum Besten. Nicht zuletzt müssen die Clowns innere Stärke mitbringen, denn die Vielfalt der Eindrücke in den Krisengebieten mit Menschen, die am Rande leben, verlangt auch die Fähigkeit zur persönlichen Balance. Wie auch immer: Der beste Humor bleibt angesichts der prekären Verhältnisse des Publikums für die Aktivisten ein diffiziler Spagat. Die Nachbereitung der Reisen, auch im Austausch mit anderen Vereinsmitgliedern, zählt ebenfalls zu den Verpflichtungen.

 

Und wie kommt der Spaß ins Publikum? Bewegung, Gestik, Pantomime, Musik: Damit werden die Sprachbarrieren überwunden, vor denen die Harlekine bei den Auftritten im Ausland stehen. Oft reagieren die Kinder zunächst mit Staunen und Verblüffung, bis dann der Funke überspringt und das Lachen ausbricht – etwa, wenn der Dumme es dennoch schafft und der Boss vom hohen Ross herunterpurzelt. „Wir werden zu positiven Integrationsfiguren, die etwas anderes vermitteln wie die traumatisierte Umwelt“, summiert Oberclown Strauß seine Erfahrungen. Darin liegt die nachhaltige Wirkung der Spaßmacher: dass die Kinder die Tricks wiederholen, die Gesten imitieren, die Melodien nachsingen. Welches Glück für die bedrängten Menschen, wenn sie auf diese Weise Entspannung und Erleichterung erleben, ja sogar ein Stück Freiheit in ihrer ziemlich perspektivlosen Existenz – und davon sogar noch weiter zu zehren vermögen, wenn die Akteure schon längst wieder abgereist sind. Die Schauspieler können mit solchen nachwirkenden Erfolgen durchaus zufrieden sein, doch treibt sie die Absicht um, noch weitere Türen für ihre jungen Bewunderer zu öffnen, die deren Lebenswege positiv beeinflussen. Etwa wenn sie begabte Kids an Clownschulen vermitteln oder gar zur Ausbildung nach Deutschland holen.

 

Dabei sind die Clowns ohne Grenzen in Deutschland eine geradezu idealtypische Erscheinung einer wachen Zivilgesellschaft. Der Verein besitzt nur rund 150 Mitglieder, davon etwa ein Drittel Aktive; die Finanzierung erfolgt, neben dem eigenen Einsatz der Mitglieder, ausschließlich über Spenden, die erfreulicherweise in den letzten Jahren zugenommen haben. So konnten sie ihr Budget immerhin auf 90.000 Euro erhöhen. Der Verein versteht sich ethnisch, konfessionell und politisch als völlig neutral, was ihm wie selbstverständlich ein internationales Operationsfeld eröffnet. Auch arbeitet er intensiv an einem tragfähigen sozialen Netzwerk, kooperiert nicht nur mit den ausländischen Partnerorganisationen, sondern knüpft Kontakte zu hiesigen Institutionen wie dem Goethe-Institut, das die deutschen Kulturbeziehungen zum Ausland koordiniert, sowie der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), zu deren wichtigster Auftraggeber das Berliner Entwicklungsministerium zählt. Durch eine engere Verbindung mit solchen Einrichtungen versprechen sich die pfiffigen Komiker ein breiteres Aktionsfeld, gerade in Krisenregionen.

 

Die Auszeichnung durch die Theodor Heuss Stiftung betrachtet der Vorsitzende Strauß als eine große Anerkennung. „Denn ernst genommen zu werden, das ist für Clowns nicht immer leicht in Gesellschaft und Politik.“ Da zeigte sich Angela Merkel jedoch von einer ungewöhnlichen Seite. Denn sie ließ sich vor einiger Zeit die Späßchen der Possenreißer im Kanzleramt präsentieren. Und sie konnte sich wohl köstlich amüsieren. Schließlich hat die Regierungschefin bei ihrer Flüchtlingspolitik ansonsten nicht viel Anlass zum Lachen.

 

 Clowns ohne Grenzen.org

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

 

Grandhotel Cosmopolis e.V.

 

 

Ob Gast oder Flüchtling: Es gibt nur Bewohner

 

Die Straßen und Gässchen im Altstadtviertel um den Augsburger Dom üben sich in vielen Windungen und Abbiegungen. Die Gedrängtheit der Bauweise lässt auf die intensive Geschäftigkeit in der berühmten Reichsstadt schließen, als nämlich Augsburg während der Renaissance als süddeutsches Zentrum des Handels und des Geistes eine einmalige Blütezeit erlebte. Im Schatten von Kirchen und Palästen gruppierten sich Warenkontore und Werkstätten der selbstbewussten Bürgerfamilien, von denen die Fugger und die Welser zu den namhaftesten zählten.

 

Aus diesem kleinteiligen Altstadtbezirk mit seinem nachwirkenden Hauch von Tradition und Geschichte ragt heute ein neumodischer sechsstöckiger Turm hervor, der sich so gar nicht in das überkommene Bild fügen will. Es war die Evangelische Diakonie, die hier in den Sechzigerjahren ein Altersheim in Reichweite der ehrwürdigen Kathedrale platzierte. Doch schon nach der Jahrtausendwende war es, wie mit der Nutzung vieler dieser schnell hochgezogenen Gebäude, als Stätte zeitgemäßer Seniorenfürsorge vorbei. Der gelbliche Klotz stand jahrelang leer.

 

Wer sich jedoch jetzt dem Turm nähert, bemerkt schon von weitem eine für diese Gegend ungewöhnliche Farbenpracht. An den Balkonen der sechs Etagen hängen große leuchtende Tücher, Teile der Fassadenwände tragen leuchtende Bemalungen, über dem Eingang prangt knallig bunt die neue Bestimmung: Grandhotel Cosmopolis. Natürlich hat dieses Grandhotel mit den so bezeichneten Nobelherbergen, die die Atmosphäre von Luxus und Reichtum verbreiten, überhaupt nichts gemeinsam. Und das hat seine besondere Bewandtnis.

 

Eine Gruppe Augsburger Künstler trieb vor Jahren die Idee um, ihre Kreativität nicht in individuelle Meisterwerke zu stecken, sondern mit ihrer Tätigkeit im öffentlichen Raum soziale Skulpturen zu schaffen. Dahinter steckte der Anspruch, die gesellschaftlichen Figurationen anders zu modellieren und mithilfe von Kommunikation sowie Begegnung neue menschliche Netzwerke zu knüpfen und zu festigen: die Gesellschaft gleichsam als großes Atelier zu nutzen. Als Vorbild diente hier nicht die sozialrevolutionäre Dichtung Bertolt Brechts, des berühmten Sohns der Stadt, sondern der Aktionskünstler Joseph Beuys mit seiner Konzeption der Sozialen Plastik als Gesamtkunstwerk.

 

Allein es fehlte die entsprechende Stätte für die Künstlergruppe, um ein solches Projekt vor Ort verwirklichen zu können. Georg Heber, geistiger Antreiber dieses Kreises, entdeckte dann 2011 das leerstehende Altenheim im Dom-Viertel, und in Pfarrer Fritz Graßmann, Vorstand der Diakonie, fand er mit seinen Ideen, dieses Haus für das Experiment einer sozialen Skulptur zu öffnen, nicht nur einen verständnisvollen, sondern auch einen begeisterten Ansprechpartner. Da auch die Bezirksregierung von Schwaben ein Auge auf die Immobilie als Asylbewerberheim geworfen hatte, kristallisierte sich recht bald das Konzept heraus, Künstler, Touristen und Flüchtlinge unter einem Dach unterzubringen: das Grandhotel Cosmopolis als Begegnungsstätte für Menschen aus aller Welt und in unterschiedlichen Lebenslagen.

 

Von der Idee zur Tat: Das war allerdings ein beschwerlicher Weg. Das galt nicht allein wegen der Finanzierung, sondern vor allem für das Zusammenwirken von zivilgesellschaftlicher Initiative und öffentlicher Verwaltung. Denn an der Paragraphen bestimmten und damit zuweilen hartleibigen Bürokratie scheiterte so manches menschenfreundliche Vorhaben des Initiativkreises. Touristen und Flüchtlinge Tür an Tür: Da stehen Gesetze und Verfügungen vor. Leben, Arbeiten, Essen, Feiern als ständiges Miteinander, wie der ursprüngliche Gedanke einmal lautete: Das lassen die Amtsträger nicht zu. Die Flüchtlinge sind in einem besonderen Trakt untergebracht, auf den die staatlichen Behörden mit pingeligen Regelungen eine strenge Hand halten. Hinter hehren Absichten waltet eben immer noch deutsche Gründlichkeit, auch wenn Angela Merkel längst größere Flexibilität in der Flüchtlingsproblematik eingefordert hat.

 

 

 

 

Dennoch fasziniert das Augsburger Projekt, auch wenn Kompromisse unumgänglich waren. Die Finanzierung ließ sich über Spenden und Stiftungszuweisungen bewerkstelligen, vor allem aber über die Leistungen der Freiwilligen, die allein 120.000 Arbeitsstunden in die Renovierung des Gebäudes steckten. Für die Hotelgäste stehen zwölf Zimmer und vier Hostel (Sammelunterkünfte) zur Verfügung. Viele Räume sind von Künstlern liebevoll und individuell ausgemalt und besitzen dadurch eine ganz eigene Note. Daneben bestehen elf Ateliers für Künstler, ein Tonstudio, ein Seminarraum, ein Café und – ganzer Stolz des Hauses – ein einladender Speisesaal mit modernster Küche.

 

„Wir verstehen uns nicht als Sozialarbeiter“, sagt Peter Fliege, ein Mann aus dem Gründerkreis der Projekts. „Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, nur Kritik zu üben, sondern Modelle vorzustellen und Wege aufzuzeigen, um die festgefahrene Alltagskultur zu verändern.“ Im Grandhotel Cosmopolis wird es in vielfältiger Weise praktiziert, sowohl in der Struktur als auch in der Gestaltung. Der Hotelbetrieb, seit bald zwei Jahren in Gang, hat sich zwar inzwischen professionalisiert; zwölf Schlüsselstellungen sind nunmehr mit Angestellten besetzt. Aber viele Tätigkeiten sind auf die freiwilligen Helfer und Praktikanten abgestellt. Der Personalpool umfasst rund hundert Personen. Dennoch herrscht im Haus keine Hierarchie. Kleine Organisationseinheiten – sie werden <Container> genannt – regeln ihre Angelegenheiten selbstbestimmt. So können sich alle als „Hoteliers“ fühlen. Das Wort „Ehrenamt“ ist verpönt, weil weder Ehre, noch Ämter zu vergeben sind, heißt es. Gäste, Künstler, Flüchtlinge: Sie alle firmieren unter „Bewohner“, um nicht getrennte Ebenen zu schaffen, die Kommunikation und Partizipation behindern. Ein umfangreiches Kulturprogramm lädt zu Konzerten, Vorträgen und Diskussionen ein, und gerade hier lockt es Flüchtlinge, unter dem gemeinsamen Dach und nur durch Glastüren getrennt, zur aktiven Teilnahme. Dies gilt auch stets für das gemeinsame Mittagessen und interkulturelle Feiern.

 

Wer den Turm im Springergässchen 5 betritt, natürlich über den obligaten roten Hotelteppich, den umfängt ein eigenwilliges Ambiente. Der schwungvolle Tresen im Eingangsbereich, der als Bar dient, stammt aus einem Fotoladen der Sechzigerjahre. An der Wand hängen fünf altertümliche Uhren, alle unterschiedlich, die die Zeiten von Grosny, Amara, Kabul, Damaskus und Bagdad anzeigen. Das Café mit lauschigen Nischen verleitet sofort zu zeitvergessenden Gesprächen. Die Möbel stammen aus Depots und Wohnungsauflösungen, alles schon ältere Jahrgänge, mit Nierentischchen, Polstersesseln, Retrolampen. Natürlich passt kein Stück zum anderen. Aber durch dieses nostalgische Gepräge entwickelt sich ein ebenso zwangloser wie traulicher Charme, im Gegensatz zum uniformen Styling moderner Hotelketten. Und was die Preise betrifft: Zwar ist eine bescheidene Grundsumme festgelegt, aber es wird erwartet, dass die Gäste Herz und Geldbörse etwas großzügiger öffnen für diese soziale Skulptur.

 

Ein weit offener Ort mit mannigfachen Erscheinungsformen und Erfahrungen: So präsentiert sich das Projekt Grandhotel Cosmopolis in Augsburg. Damit zeigt es Möglichkeiten, wie Grenzen in der Gesellschaft durchlässiger, wie Gefühle zwischen innen und außen, zwischen fremd und bekannt angegangen, gar überwunden werden können. Vielleicht ist es damit sogar mehr als eine lokale zivilgesellschaftliche Spezies, sondern eine der notwendigen Keimzellen künftigen humanen Überlebens in einer durch Gewalt und Terror wie Habgier und Gewinnstreben krisengeschüttelten Welt.

 

 

http://grandhotel-cosmopolis.org/de/

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

 

 

 

Kiron Open Higher Education gGmbH

 

Die Camps werden zum digitalen Campus

 

Zur Rechten residiert die Wissenschaft, zur Linken präsentiert sich die Geschichte: Eine bessere Adresse mit exzellentem Renommee hätte die neuartige Bildungseinrichtung in Berlin nicht finden können. Denn Kiron Open Higher Education, so heißt das Startup-Unternehmen, hat sich in einem Gebäude zwischen der Humboldt-Universität und dem Deutschen Historischen Museum nahe dem Prachtboulevard Unter den Linden platziert. Die Besonderheit von Kiron liegt allerdings nicht im traditionsreichen Ambiente, sondern in der ehrgeizigen Ambition: Nämlich interessierten und befähigten Flüchtlingen sobald wie möglich zu einem Studium zu verhelfen. Und dies vor allem ohne jene bürokratischen Hürden, die deutsche Verwaltungen vor einem solchen Unterfangen bislang aufgebaut haben.

 

Die Überlegungen dazu entstanden vor bald zwei Jahren auf einer Konferenz zur Flüchtlingsthematik, und es geschah an einem für Liberale bekannten Denkort: der Theodor-Heuss- Akademie im oberbergischen Gummersbach. Die Grundidee war dabei, wie das Studiensystem geöffnet werden könnte, allein mit den Möglichkeiten des Internets. Vor einem Jahr schließlich, im März 2015, gründeten die drei Studenten Vincent Zimmer, Markus Kreßler und Christoph Staudt das einzigartige Lehrangebot Kiron. Als Namensgeber steht dafür die Erzieherfigur Cheiron aus der griechischen Mythologie.

 

Das Konzept ist ebenso einfach in Ablauf und Struktur wie revolutionär im Blick auf die gängigen Studienbedingungen in Deutschland, aber auch Europa. Jeder Flüchtling kann sich bei Kiron um ein Studium bewerben, auch wenn sein künftiger Asylstatus noch nicht geklärt ist. Damit ist die individuelle Weiterbildung vom ersten Tag an möglich, ob nach gelungenem Grenzübertritt oder noch auf Fluchtwegen oder in Lagern irgendwo auf der Route. „Wir wollen da Perspektiven schaffen, wo die Leute sind“, erklärt Geschäftsführer Kreßler das Modell. „Wir wollen die Flüchtlinge auch nicht zwingen, nach Deutschland zu kommen.“ So avancieren die Camps schon zum medialen Campus. Und damit werden jene immer wieder beklagten langen Wartezeiten vermieden, oft in Monaten, wenn nicht gar Jahren gemessen, in denen der Betreffende für ein Studium an einer deutschen Universität oder Hochschule ausgeschlossen bleibt. Die persönliche Präsenz, entsprechende Papiere und Zertifikate, ausreichende Deutschkenntnisse verhindern ansonsten die Immatrikulation. Kiron setzt dagegen als Voraussetzung für ein Studium nur den glaubhaften Nachweis einer gleichwertigen Schulausbildung und gute Englischkenntnisse.

 

Das Studium, das zu einem Bachelor-Examen führen soll, gliedert sich in zwei Phasen. Die ersten beiden Jahre werden ausschließlich online absolviert. Das beinhaltet Kurse verschiedener renommierter Hochschulen in englischer Sprache, so genannte Massive Open Online Courses (MOOCs). Sie stammen häufig aus amerikanischen Elite-Universitäten wie Harvard, Stanford und Yale, weil in den USA individuelle Lernprogramme schon viel weiter entwickelt sind als hierzulande. Die Module bestehen aus Videos, Lesematerial, Testaufgaben und Diskussionsforen, zu denen sich die Lernenden untereinander, aber auch mit speziellen Dozenten und Tutoren austauschen. Zudem entstehen lokale Lernzentren, an denen sich die Studenten treffen können. Die zweite Phase – und damit das entscheidende dritte Jahr – mündet in ein Präsenzstudium an einer der Partneruniversitäten von Kiron, in Deutschland die Technische Hochschule Aachen (RWTH) und die Hochschule Heilbronn, aber auch Unis in Europa, Westafrika, USA und Kanada ziehen da inzwischen mit. Dort werden die absolvierten Online-Kurse anerkannt. Am Ende können die Studierenden dann eine Bachelor-Prüfung ablegen, eben den erfolgreichen akademischen Abschluss erzielen.

 

Kiron bietet bislang das Studium in fünf Fächern an: Wirtschaftswissenschaften, Ingenieurwesen, Informatik, Architektur und interkulturelle Studien. Damit erschöpft sich allerdings nicht das Angebot. Für die Studieninhalte sucht Kiron Kooperationen mit anderen Plattformen wie dem Hasso-Plattner-Institut oder iversitiy. Auch bemüht man sich, den Studierenden psychosoziale Betreuung zu gewähren, nötigenfalls auch professionelle Hilfsinstitutionen einzuschalten. Schließlich hat eine große Zahl der Flüchtlinge traumatische Erlebnisse zu verarbeiten, sodass der Kopf nicht für geistige Höchstleistungen frei ist. Auch die zermürbenden Erfahrungen mit deutscher Bürokratie im Anerkennungsverfahren stellen häufig eine schwere Belastung dar, die ein Studium nicht gerade zur reinen Lernfreude macht.

 

Kiron versteht sich mit seiner „Open Higher Education“ durchaus als Dienstleister, allerdings mit humanitärem Anspruch. Dazu passt, dass sich die Gründer zunächst über Crowdfunding das nötige Startkapital besorgten. Inzwischen ist jedoch über Spenden, vor allem von Stiftungen, die schwierige Aufbauphase abgesichert. So läpperte sich allmählich eine stattliche siebenstellige Summe zusammen. Aber das gute finanzielle Polster ermöglicht es Kiron, den ersten 1250 Flüchtlingen, die seit dem Wintersemester 2015/16 das Studium begonnen haben – oft nur mit ihrem Internet fähigen Handy –, die Fernkurse kostenlos anzubieten. Von Mai an kalkulieren sie mit etwa 2.000 weiteren Programmteilnehmern. Später hoffen sie auf öffentliche Gelder, erwägen aber auch ein Modell, bei dem ehemalige Absolventen, wenn sie denn einst einen Job gefunden haben, die nachwachsende Generation refinanzieren.

 

„Die Nachfrage ist größer als wir verkraften können“, erläutert Bildungsmanager Kreßler. Dabei ist ein beachtliches Team mit ihm am Werke. Getragen wird dieses digitale Sozialunternehmen von einer Kernmannschaft mit rund 50 Personen und etwa 200 Unterstützern, zu denen Wissenschaftler ebenso zählen wie Pragmatiker aus Wirtschaft und Politik.

 

In Kiron steckt viel Enthusiasmus und reichlich Elan. Das hängt gewiss mit den jungen Gründern zusammen, die ständig bemüht sind, weitere Partnerschaften und Kooperationen anzubahnen. Aber auch mit den schier unerschöpflichen Möglichkeiten der digitalen Praxis und den virtuellen Räumen lässt sich in Zukunft wohl prächtig wuchern. Gerade für dieses Startup. Die Vision ist deshalb auch hoch gesteckt: Im Jahr 2020 hält es Studienvermittler Kreßler durchaus für möglich, dass Kiron 20.000 Studierende betreut. Wenn dies gelingt – und die technischen Voraussetzungen sprechen keineswegs dagegen – könnten die traditionellen deutschen Hochschuleinrichtungen angesichts dieser Netz-Konkurrenz bald recht alt aussehen. Das tröstet die Aktivisten sicherlich darüber hinweg, dass sie sich auf Einspruch gestrenger Bürokraten vorerst nicht „University“ nennen dürfen. Aber am Titel hängt es nicht. Denn ihr Portal ist universell, mit egalitärem und nicht elitärem Zugang.

 

https://kiron.ngo/

 

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

 

 

Welcome United 03 des SV Babelsberg

 

 

Ein Fußballrasen als Ort der Integration

 

Zusammenführen, Hereinholen, Integrieren – wie kann das gehen, wenn die Neuankömmlinge exklusiv auftreten, das Anderssein vor sich hertragen, deutlich auf dem Trikot markiert? In der Potsdamer Filmstadt Babelsberg soll genau dies hervorragend funktionieren, mit einer Fußball spielenden Mannschaft nur aus Flüchtlingen. Kicker aus unterschiedlichen afrikanischen Staaten, aus Afghanistan, Syrien oder dem Iran wollen als solche aktiv hier mitmachen, nicht nur einfach so, sondern fest eingebunden im üblichen Liga-Spielbetrieb. Fußball ist ihr Leben, natürlich, und nicht allein, doch als starkes Vehikel für die Teilhabe in der Nachbarschaft, der Kommune, der Arbeitswelt. Die Kicker von „Welcome United 03“ – unter den Fittichen des 1903 gegründeten Traditionsclubs „SV Babelsberg“ – sehen da keinen Gegensatz, sondern das kombinierte Auftreten im vertrauten Team als „Schutzraum“ ihrer Schicksalsgemeinschaft und bei gleichberechtigter Zugehörigkeit im üblichen Mannschaftsgefüge dieses Landes.

 

Seit nunmehr rund zwei Jahren ist die Rasenfläche des Babelsbergs Stadions an der Karl-Liebknecht-Straße ihr Exerzierfeld für ein geordnetes und eingebundenes Miteinander im Vereinsleben, in Fan- und Freundschaftszirkeln und im städtischen Umfeld. Erst kamen sie nur, um jenseits der Flüchtlingsheime diesen Trainingsplatz für lockere Ballübungen und spontane Spielchen untereinander zu nutzen, hobbymäßig, ohne festen Rahmen. Doch aus Lust wurde schnell Leidenschaft und aus Wiederholung Struktur und Systematik.

 

Natürlich mit zunehmender Unterstützung und Förderung des gesamten Vereins. Denn auch diesem war daran gelegen, den zugereisten Sportinteressierten ihre Anlagen nicht nur zeitweise zu überlassen, sondern sie so weit wie möglich ins Spiel- und Gemeinschaftsgefüge hereinzuholen. Marketingchef Toralf Höntze betont dies, als sei es eine Normalität: „Wir können nicht einfach sagen, die bolzen hier in irgendeiner Ecke, denn das wäre für uns diskriminierend gewesen.“

 

Das umfängliche „Mitspielenlassen“ ist bei den Babelsbergern schon aus Tradition eine gesamtstrategische Aufgabe: Neben der ersten Mannschaft, die zur Regionalliga zählt, und einer zweiten, der U 23 (wegen der Altersbegrenzung) in der Landesliga, bildet das „Welcome“-Flüchtlingsteam seit dieser Saison einen dritten Stammkader, der in der Kreisklasse C einsteigen und hochsteigen konnte. Denn die bunte Truppe kickt munter und erfolgreich auf den oberen Plätzen mit. Sportlicher Aufstieg scheint somit nicht ausgeschlossen.

 

Dafür legt sich der Verein auch mächtig ins Zeug. Wie allen anderen Spielern steht den Flüchtlingsmannen effektive Förderung in jeglicher Hinsicht zu: von der Ausstattung mit Trikots und Schuhen, Trainingsflächen, Umkleideräumen, Trainern und Betreuern bis hin zur obligatorischen Unfallversicherung. Lediglich für den Spielerpass benötigen die Offiziellen gegenüber dem DFB die Ablichtung legitimierender Dokumente. Welchen Asylstatus der Betreffende jedoch aufweist, bleibt unerheblich. Wer von den Ankömmlingen möchte und mithalten kann, gehört zu den Stammspielern. Davon laufen rund 30 jeden Mittwoch im Stadionrund auf. Und wer sich nicht fest einbinden lassen will, kann in einer zweiten offenen Runde sonntags nach Belieben mittun. Gelegenheiten dazu finden sich auch bei Freundschaftsspielen und Turnieren.

 

Die engen sportlichen Bindungen fördern den Zusammenhalt der Kicker aus rund acht bis zehn Nationen. Das schafft zudem Kontakte mit aus- wie inländischen Fans und führt zu sozialen Beziehungen und Netzwerken, die neben dem Spielfeld immer wichtiger und wertvoller werden. „Wir verstehen uns schließlich als antirassistischen Verein. Gerade die Fan-Szene ist da sehr prägend mit ihrer gesellschaftspolitischen Basis“, erläutert Club-Sprecher Höntze. Obwohl das professionelle Management soziale Integrationsarbeit leistet, freut es ihn besonders, dass sich vielfältiges Handeln oft informell entwickelt. Dafür findet sich dann immer jemand, der mit auf die Behörden geht, private Einladungen ausspricht, bei der Wohnungssuche zur Seite steht. Gerade die Sponsoren von Babelsberg wollen als etablierte Unternehmen den neuen Mitgliedern aus der Fremde mit Jobs und Anstellungen unter die Arme greifen. Das gelingt unter den Sportsfreunden unkompliziert und vertrauensvoll. Und da wird dann auch sprichwörtlich mal „über die Bande“ gespielt.

 

 

Dafür sind auch die „Welcome“-Babelsberger herausgefordert, im Rahmen des Vereinsgeschehens mit anzupacken und die gleichberechtigte Rolle nach Möglichkeit auszunutzen. Integration verläuft schließlich nicht nur in eine Richtung. Und es steigert das Selbstwertgefühl, wenn sie ehrenamtliche Funktionen am Spielrand und in den Vereinsräumen wahrnehmen. „Die werden eben ganz normal eingebunden. Das ist gar nicht so ein Arbeitsprozess, sondern einer, der quasi von selbst passiert“, meint Medienmann Höntze.

 

Auf dem Platz gelingt diese Durchlässigkeit sowieso. Wechsel von Fußballern zwischen den Mannschaften sind üblich. Da entscheidet einzig das Leistungsniveau. Wie etwa bei dem dunkelhäutigen Torhüter des Flüchtlingsteams. Dieser steht nun auch zwischen den Pfosten der zweiten Mannschaft von Babelsberg, wahrlich eine Schlüsselstellung. Und bleibt auch hier – neben den Deutschen – in guter Gesellschaft von Mitspielern mit Migrationshintergrund. Immer mehr in den Vordergrund gerät die Persönlichkeit der einst Geflüchteten, das Können, das Besondere, das Individuelle, Witz und Liebenswürdigkeit. Zum Wechsel gehört aber auch das endgültige Ausscheiden, wenn die Betreffenden andere Prioritäten setzen, Familien gründen, auch weiterziehen wollen – oder müssen. Wie das Projekt „Welcome United 03“ sich zukünftig entwickelt? „Wir wollen das gar nicht steuern“, schätzt Manager Höntze die Aussichten. „Wir schaffen nur eine Atmosphäre, in der Integration gedeihen kann.“

 

Deshalb freut er sich über die Auszeichnung der Theodor Heuss Stiftung. Nicht nur speziell in Bezug auf das Flüchtlingsprojekt. Höntze: „Seit 15 Jahren ist dies eine logische Kette unser gesellschaftsorientierten Arbeit“. In dieser Reihe finden sich Programmpunkte wie regelmäßige antifaschistische Stadionfeste, Demonstrationen gegen Pegida, Aktionen gegen Homophobie und Fremdenfeindlichkeit, Veranstaltungen mit NS-Zeitzeugen, Lesungen, Bildungsreisen. Die Babelsberger sind stolz auf diese Bandbreite, mit der sie in Potsdam allenthalben auffallen, gelegentlich auch anecken. „Man guckt nur bei uns dahinter und sagt: Ach, die Null-Dreier.“

 

https://babelsberg03.de/

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

 

 

 

die "stillen Helfer"

 

Was in der Krise die Gesellschaft zusammenhält

 

 

In den letzten Wochen und Monaten ging es in der deutschen Flüchtlingspolitik häufig laut zu, auf der politischen Bühne ebenso wie in kontroversen Talkshows, bei aggressiven Krawallen wie auch während hasserfüllter Demonstrationen. Die „Stimmung der Gereiztheit“, wie sie jüngst der Soziologe Heinz Bude diagnostizierte, wird unterlegt mit schaurigen Szenen aus „Dunkeldeutschland“, einem Genre, das historisch längst überwunden galt: mit Brandanschlägen gegen Asylbewerberunterkünfte und Attacken auf Ausländer. Verliert das Land, das sich früher auf seine tragfähige demokratische Stabilität viel zugute hielt, angesichts der Flüchtlingswelle die innere Balance?

 

Die Flut der brüsken Bilder beschreibt nicht die ganze Realität, und die phonstarke Hybris der Wortführer ist nicht der gemeinsame Kanon der hier Lebenden. Es gibt sie doch, die andere Wirklichkeit, die sich gegen Abwehr und Abgrenzung richtet. Und sie besitzt eine Figur, die jede Verweigerung und allen Protest überzeugend widerlegt: die stille Helferin, den stillen Helfer. Sie haben für sich längst die Frage beantwortet, vor der die deutsche Gesellschaft angesichts steigender Flüchtlingszahlen, heute wie morgen, nicht ewig wegschauen kann: Wer wollen wir sein? Was wollen wir tun?

 

Hilfe – das ist zuweilen nur ein kleiner Schritt, und es bedarf noch nicht einmal jenes oft zitierten Ehrenamtes, mit dem sich die Zivilgesellschaft gegenwärtig so gerne ziert und feiert. Es kann nämlich nur der Griff in den Kleiderschrank sein zum überflüssigen Kleid oder zu den altmodischen Schuhen; die Gefälligkeit an der Kaffeetheke oder der Fahrdienst zum Arzt; die Übersetzung von Formularen und die Begleitung zu Behörden; die Nachhilfe bei Schülern und die Erteilung von Sprachunterricht. Und dafür gibt es viele Plätze, in Ämtern und Schulen, in Vereinen und Kirchen, in Initiativen und Gemeinden. Manchmal reicht auch die zufällige, doch herausfordernde Begegnung auf der Straße. Geplant oder unbewusst der plötzlichen Eingebung folgend: Sie, die sonst unsichtbaren Unterstützer, tauchen immer wieder auf, fragen nicht nach Kosten oder Kalkül. Und verschwinden im Alltagsleben so unauffällig wie sie selbstlos vorher eingeschritten sind.

 

Es handelt sich, allen fatalen Eindrücken von Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass zum Trotz, immer mehr um Menschen, die ohne großes Aufheben ihre Hilfe anbieten. Das haben wenigstens Forscher der Berliner Humboldt Universität herausgefunden. Dank dieser Studie werden die Konturen der Helfer etwas deutlicher: Vor allem sind es Frauen, die sich für Flüchtlinge engagieren; sie sind überdurchschnittlich gebildet; sie sind entweder relativ jung, etwa zwischen 20 und 30 Jahren, oder bereits alt, die mittlere Generation ist seltener vertreten; sie leben mehr in Großstädten denn in kleineren Gemeinden; und ihre Hilfe kommt spontan, in Eigeninitiative. Es braucht nur den persönlichen Anspruch – und eine tätige Entschlossenheit.

 

Ja, die Gutmenschen sind wieder gefragt. Aber wie ist dieser Typus zuletzt immer wieder mit beißender Kritik belegt worden? Als naiv und weltfremd wurde er in der Öffentlichkeit fast durchgängig mitleidig dargestellt. Natürlich passt das Bild solcher Gutmenschen schlecht zu einer Gesellschaftsformation, in der zynische Ellenbogenmentalität und bedenkenlose Ökonomisierung dominieren. Da bleibt wenig Raum für Rücksicht und Respekt. Deshalb bedarf es gelegentlich eines  kräftigen Weckrufs, um an die Menschen guten Willens zu erinnern. Waren nicht sie es, die mit ihren Tugenden die abendländisch-christliche Kultur so nachhaltig wie aufklärerisch geprägt haben? Der hilfreich bemühte Charaktertyp benötigt nicht die Institutionen und Strukturen, die amtshalber Anteilnahme und Fürsorge gewähren. Bei ihm tickt noch das eigene Gewissen. Wie notwendig dies auch gegenwärtig ist, hat sich gerade in der Flüchtlingskrise gezeigt. Denn Bürokratie und Verwaltung waren über das eine wie das andere Mal recht schnell an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten angelangt. Wie hätte da Deutschland ohne die stillen, aber allzeit bereiten Helfer ausgesehen, wenn nicht sie die vielen Lücken und peinlichen Defizite gefüllt hätten?

 

Theodor Heuss hat vor bald sieben Jahrzehnten einmal von dem <Mut zur Liebe> gesprochen. „Mut zur Liebe? Bedarf es dessen? Ja! Der Hass folgt der Trägheit des Herzens; er ist billig und bequem. Die Liebe ist immer ein Wagnis. Aber nur im Wagen wird gewonnen.“ So hat er formuliert. Das Land versuchte, Ende 1949, gerade wieder eine Gemeinschaft und einen Staat zu bilden. Es zeigte sich, unter dem Eindruck der geistigen und materiellen Verwüstungen durch das totalitäre Nazi-Regime, reichlich gespalten. Auch die gegenwärtige Flüchtlingsfrage hat empfindliche Risse und tiefe Gräben bloßgelegt. Theodor Heuss, gerade im Amt des Bundespräsidenten, griff mit seiner Wendung damals ebenfalls ein heikles und kontroverses Thema auf, das nicht eine minder schwere Last darstellte: das Verhältnis von Juden und Deutschen. Und er redete seinen Landsleuten den Mut zur Liebe zu. Welch lebenserfahrenes Wort in schwieriger Zeit.

 

Nun, von Liebe spricht heute allenfalls noch Papst Franziskus in Rom. Die Wortwahl ist nunmehr hierzulande gewiss eine andere. Toleranz, Empathie, Solidarität, auch Mitmenschlichkeit und Humanität: Damit ist die gesellschaftspolitische Rhetorik unserer Leitfiguren prall gefüllt. Vielleicht sogar überfüllt. Denn die Häufung solcher prätentiöser Begriffe kann sich in der rauen Wirklichkeit schnell abnutzen. Wie passen die ständigen Beschwörungsformeln der großartigen europäischen Werte zu den tristen, sogar erbärmlichen Bildern, die uns täglich über Fernsehen und Internet von den Fluchtwegen und Trecks, aus den Lagern und Camps ins Haus geliefert werden?

 

Allerdings braucht es nicht des voluminösen Wortschwalls. Es kann auch ein knapper Satz genügen, der Herz und Verstand zu bewegen vermag. Wie etwa Angela Merkels knappe Sentenz: „Wir schaffen das.“ Was für die einen als Zumutung klingt, empfinden andere durchaus als Verpflichtung. Denn es folgt die substantielle Antwort der stillen Helferin, des stillen Helfers: „Wir machen das.“ Solange dies funktioniert, erübrigt sich die so oft skeptisch gestellte Frage, was denn eigentlich unsere Gesellschaft noch zusammenhält. Es ist dieses verlässliche, auch generöse Reservoir einer Zivilgesellschaft, die diesen Namen wirklich verdient.

 

Urkunde Theodor Heuss Medaille 2016 „den stillen Helfern“ für alle stillen Helfer zum Download

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

 

Flucht nach Europa - Deutschland auf dem Weg: Solidarität und Phantasie aus der Mitte der Zivilgesellschaft

Am Freitag, 29. April 2016,  fand im Stuttgarter Rathaus das Kolloquium anlässlich der 51. Theodor Heuss Preisverleihung zum Jahresthema „Flucht nach Europa – Deutschland auf dem Weg: Solidarität und Phantasie aus der Mitte der Zivilgesellschaft“ statt.

 

Die Vertreter*Innen der Theodor Heuss Medaillen 2016:  Clowns ohne Grenzen Deutschland e.V., Grandhotel Cosmopolis e.V., Kiron Open Higher Education gUG, Welcome United 03 des SV Babelsberg und „die stillen Helfer“ (Marina Silverii) diskutierten mit den engagierten Kolloquiumsteilnehmer*innen über „Was schaffen wir? Chancen und Grenzen zivilgesellschaftlichen Engagements“.

 

Eine Zusammenfassung des Kolloquium finden Sie hier:

Kolloquium Theodor Heuss Stiftung 2016,
Bericht Carola von Braun

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

      

 

 

 

 

 

 

 

Audiomitschnitt 51. Theodor Heuss Preisverleihung

Begrüßung Ludwig Theodor Heuss

Grußwort Ministerin Theresia Bauer

Grußwort Oberbürgermeister Fritz Kuhn

Festrede Dieter Zetsche

Verleihung der Theodor Heuss Medaillen

Podiumsgespräch mit den Theodor Heuss Medaillenträgern moderiert von Cem Özdemir

Schlusswort Gesine Schwan

2016