Porträt Malgorzata Gersdorf

Theodor Heuss Preis 2019

Porträt der Preisträgerin

Malgorzata Gersdorf

 

Im Widerstand für den Rechtsstaat

 

Es war eine vieldeutige Szene: Am Morgen des 4. Juli 2018 erschien Malgorzata Gersdorf mit einer weißen Rose in der Hand, dem Symbol der Unschuld wie der Trauer, vor dem modernen Glasbau des Obersten Gerichts Polens am Warschauer Krasinski-Platz. Zugleich hatte sie ihr offizielles Habit angelegt, die schwarze Robe einer Richterin. Eine beachtliche Menschenmenge, die auf diese Frau bereits gewartet hatte, begrüßte sie mit lauten Bravo-Rufen und langem Beifall.

 

Eigentlich hätte die so Umjubelte das mächtige Justizgebäude nicht mehr betreten dürfen. Zwar war sie dort viele Jahre fast täglich ein- und ausgegangen, zuletzt sogar als Präsidentin dieses Gerichts. Aber mit einem neuen Gesetz hatte die nationalkonservative polnische Regierung sie über Nacht in Zwangspensionierung schicken wollen. Ihre „Verfehlung“: Sie war plötzlich zu alt für das Amt, das sie seit 2014 bekleidet hatte. Die Parlamentsmehrheit der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwosc – PiS) im polnischen Sejm hatte nämlich beschlossen, das Höchstalter der Richter am Obersten Gericht von 70 auf 65 Jahre zu senken.

 

Diese abrupte Entlassung wollte Malgorzata Gersdorf für die eigene Person nicht gelten lassen, verletzte dies doch das europäisch weit verbreitete „Gesetzlichkeitsprinzip“. Danach können Strafen und Sanktionen nicht noch nachträglich verhängt werden, wenn im Augenblick der Tat oder der  Handlung kein entsprechendes Gesetz bestanden hat. Polens Verfassung von 1997 hat diesen Grundsatz ausdrücklich anerkannt. Deshalb argumentierte die Präsidentin: „Ich stütze mich auf die  Verfassung, die meine Amtszeit ausdrücklich auf sechs Jahre festlegt. Das bisherige Gesetz nannte als Altersgrenze 70 Jahre. Das neue Gesetz ist während meiner Amtszeit verabschiedet worden und kann diese nicht verkürzen.“ Und an Staatspräsident Andrzej Duda schrieb sie: „Ich stelle fest, dass meine Amtszeit bis zum 30. April 2020 andauert und ich kraft des höchsten Rechts der Republik Polen, der Verfassung, zur Amtsführung verpflichtet bin.“

 

Der despektierlich inszenierte Rausschmiss traf Malgorzata Gersdorf auf dem Gipfelpunkt einer erstaunlichen Juristen-Karriere. Am 22. November 1952 in Warschau geboren, stand das Berufsziel für sie schon früh fest. Sie hatte sich nämlich ihren Vater zum Vorbild gewählt, einen bekannten Anwalt für Genossenschaftsrecht. Die ausführlichen Diskussionen am familiären Küchentisch vermittelten ihr daher zeitig Einblicke in die Jurisprudenz. Konsequent absolvierte sie daher ein rechtswissenschaftliches Studium einschließlich einer Promotion an der Warschauer Universität. Danach arbeitete sie weiter an der Hochschule. Während der Achtzigerjahre engagierte sie sich in der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, die in einem langen und beschwerlichen Kampf das kommunistische Regime Polens in die Knie zwang – gleichsam als Vorreiter für die friedlichen Revolutionen im gesamten realsozialistischen Osteuropa 1989/90. Nach der politischen Wende bekam Gersdorf bald eine Professur, nämlich 1992 für Arbeitsrecht an ihrer Heimatuniversität Warschau. Zeitweise war sie dort auch Vizerektorin und Dekanin der Fakultät für Rechtswissenschaft. Nach 2000 fungierte sie auch als Beraterin des Obersten Gerichts. 2008 als Richterin dort ernannt, stieg sie 2014 zur Ersten Vorsitzenden auf. Sollte das nun mit dem Pensionsgesetz alles einfach vorbei sein?

 

Also ging die Chef-Richterin am 4. Juli 2018 wie immer in ihr geräumiges Büro am Krasinski-Platz. Das wiederholte sich nicht nur für einige Tage, wie sie zunächst vermutet hatte, sondern auch für mehrere Wochen. Zwar erklärten wiederholt prominente Vertreter der Warschauer Regierung Gersdorf als Präsidentin für abgesetzt: Aber die kraftvollen Bekundungen der Politiker blieben in einer merkwürdigen verbalen Schwebe; denn es folgten keine praktischen Konsequenzen.

 

Über den radikalen Umbau des polnischen Justizwesens seit 2015 war es bald zu einem immer heftigeren Streit gekommen, zunächst im Lande selbst, aber dann auch mit EU-Institutionen. Für die PiS mit ihrem rückwärtsgewandten Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski gehörte die Umgestaltung der Gerichtsbarkeit zu den vorrangigsten Zielen. Der starke Mann der polnischen Politik hat die Priorität der Neuregelung sogar offen eingestanden. „Wenn wir sie nicht durchführen“, erklärte Kaczynski, „haben alle andere Reformen keinen Sinn. Bei der Justiz, die wir haben, würde alles früher oder später negiert und verworfen werden.“ Abgesehen davon, dass in diesen Worten eine tiefe Verachtung für die Unabhängigkeit der Rechtsprechung als unabdingbarem Prinzip der Gewaltenteilung zum Ausdruck kommt, diese Sentenz verrät zugleich die wahren Absichten des maßgeblichen Strippenziehers: die Umwandlung von Polens liberaler Demokratie in ein autokratisches System.

 

Konsequent galt bei solcherart Ausrichtung der erste Schlag 2015/2016 dem polnischen Verfassungsgericht. Mit vielen Gesetzesänderungen und gezielten Personal-Rochaden, die den Eindruck von manipulativen Manövern nicht verbergen konnten, brachte die Staats-Partei diese wichtige Institution für eine offene Demokratie unter ihre Kontrolle. „Ein mit Paradoxie geimpftes Gericht“, nennt es der deutsche Rechtsexperte Maximilian Steinbeis, „ist heute kaum mehr als ein Schatten seiner selbst“. Mit ähnlichen Methoden wurden inzwischen viele Bezirksgerichte umgekrempelt. Letztlich wollte die PiS auch das Oberste Gericht mit einem gezielten Coup vereinnahmen. Zwei zusätzliche Kompetenzen, neben dem Zivil- und Strafrecht, machen dieses für Politiker interessant: Es kontrolliert die Rechtmäßigkeit von Wahlen, so etwa in Kürze bei der Europawahl, und entscheidet über alle Disziplinarverfahren gegen Richter und ihre Urteile. „Die eigentliche Änderung besteht darin“, kommentiert Gersdorf, „dass die ordentlichen Gerichte und auch das Oberste Gericht von der Exekutive abhängig werden sollen. Das ist die Gefahr, gegen die ich und andere Richter kämpfen.“ Die Eigenständigkeit der Justiz werde dann nämlich illusorisch.

 

Die verbiesterte Umtriebigkeit der Warschauer Führung gegen die polnische Gerichtsbarkeit rief allerdings auch die EU-Kommission in Brüssel auf den Plan. Immer wieder wurde die rechtsnationale PiS-Regierung aufgefordert, ihre vielfachen Maßnahmen bei der Justizreform zu erklären, weil sie mit dem europäischen Recht nicht vereinbar seien. Die Antworten aus Warschau waren ausweichend und dürftig. So wiegelte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ab: „Jeder EU- Mitgliedstaat hat das Recht, das Justizsystem entsprechend seiner Tradition zu gestalten. In unserem Obersten Gericht arbeitet so mancher Richter, der während des Kriegsrechts die niederträchtigsten Urteile gegen Mitglieder der Solidarnosc-Bewegung gefällt hat. Und heute sitzt so jemand in diesem Obersten Gericht.“ Und weiter meinte der Regierungschef: „Die Wahrheit ist: Der Kommunismus ist bis heute durch uns nicht besiegt worden. Und wir bekämpfen ihn, indem wir unser Justizsystem reformieren.“ .Es ist das typische Argumentationsmuster, mit dem der man die polnische Demokratie umzupolen versucht: Bekämpfung alter roter Kader, die angeblich immer noch in vielen Amtsstuben säßen. Gersdorf lässt gerade diese Einlassung für ihr Gericht nicht gelten. Es sei nämlich erst nach der Wende konstituiert und mit neuen Juristen besetzt worden.

 

Auch die Brüsseler Kommission ließ sich lange mit solch verschwommenen Ausreden hinhalten. Doch schließlich reichte sie wegen der Justizreform ein Verfahren wegen Verletzung des EU-Vertrages beim Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ein. In Luxemburg sind inzwischen mehrere Klagen anhängig, darunter auch das wegen der Zwangspensionierung der hohen Richter. Und welch eine Überraschung: Im Oktober 2018 gab es eine Eilentscheidung des EuGH. In einer einstweiligen Anordnung wies die höchste europäische Instanz die polnische Regierung an, die Zwangspensionierung sofort zu stoppen. Ein Rückschlag für die Kaczynski-Partei, ein Etappensieg für Gersdorf. Denn das inkriminierte Gesetz wurde in einigen Punkten geändert. Gersdorf forderte die suspendierten Richter auf, in den Dienst zurückzukehren, 22 folgten diesem Ruf. Sie selbst amtiert seit dem 1. Januar 2019 wieder als legale Präsidentin, das Gericht bemüht sich um eine normale Funktionsweise, ihre Richterinnen und Richter sprechen wieder respektierte Urteile. Dennoch bleibt die prominente Professorin, eher widerwillig zur Symbolfigur des Widerstandes geworden, skeptisch: „Das bedeutet nicht, dass alle Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit und für die Unabhängigkeit der Gerichte verschwunden sind.“

 

Die Querelen um Chefrichterin Gersdorf und die Rechtsprechung in Polen sind kein Einzelfall, sondern führen mitten hinein in die erbitterten systemischen Auseinandersetzungen in vielen europäischen Staaten: die virulenten Attacken auf demokratische Verfassungen und ihre Institutionen durch rechtspopulistische und nationalchauvinistische Parteien. Längst erwachsen aus diesen Konstellationen ernsthafte, sogar existentielle Bedrohungen für freiheitliche Werte und emanzipatorische Lebensentwürfe. Demokratien sterben nämlich heute nicht mit einem dröhnenden Knall, sondern leise durch die Aushöhlung der liberalen Substanz, so konstatieren die US-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt; denn „die Erosion geschieht so unmerklich, dass viele sie nicht wahrnehmen“. Populisten und Nationalisten liefern dafür in Europa anschauliche Beispiele, von Putin und Erdogan über Orban und Kaczynski bis zu Salvini und Strache.

 

Dass die PiS-Führung in Polen von ihrem anachronistischen Projekt eines homogenen starken Staates nicht lassen will, der vor allem der eigenen Partei und deren Vorsitzendem folgt, beweist sie tagtäglich aufs Neue. Die Presse steht unter Dauerfeuer, die öffentlich-rechtlichen Medien sind längst mit PiS-Leuten besetzt. Die Rathäuser, so hat Kaczynski angekündigt, wolle er demnächst „durchlüften“. Und der Umbau des Obersten Gerichts schreitet munter voran, die Einsprüche der EU-Institutionen hat man zunächst taktisch pariert. Das ursprüngliche Ziel, diese Instanz von 72 auf 120 Planstellen auszuweiten und damit die Mehrheitsverhältnisse an diesem Gericht zu verändern, wird von der PiS keineswegs aufgegeben. Staatspräsident Duda hat bereits 37 Personen unter den neuen Bedingungen als Richter berufen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Soll erreicht ist. Und die Amtsführung der jetzigen Präsidentin endet in knapp einem Jahr.

 

Malgorzata Gersdorf will derweil robuste Streiterin bleiben. Dabei schaut sie nicht auf den eigenen Posten. „Der ganze Stress, den ich erlebe, ist nicht mit Geld zu bezahlen“, erklärt sie. „Aber hier geht es um etwas Höheres. Hier geht es um meinen Staat. Polen ist mein Staat.“

 

So redet nur eine überzeugte Verfassungspatriotin. Was kann einer Demokratie Besseres passieren?

 

Text: Hans-Peter Föhrding / Heinz Verfürth