Porträt Eine Gruppe von „Hand in Hand“

Theodor Heuss Preis 2019

Porträt Medaillenträger

Eine Gruppe des Kulturbündnisses „Hand in Hand“ aus Chemnitz

 

Wenn Würde nicht mehr gilt

 

Der große Raum im Erdgeschoss eines verwitterten Eckhauses vermittelt auf Anhieb ein Stück Nostalgie im Retrolook. Möbel, Tische, Sessel, alles etwas abgewetzt, erinnern an die Wohnkultur der vergangenen DDR. So verbreitet der Raum das Flair eines tristen Wartezimmers früherer Zeiten. Doch die an einer Seite eingebaute moderne Kneipentheke spricht für eine andere Nutzung.

Die Lokalität trägt den Namen „Lokomov“. Am Rande des Stadtzentrums von Chemnitz gelegen, ist sie seit einigen Jahren eine wichtige Anlaufstelle für die alternative Szene aus Kultur und Kunst. Mit einer Mischung aus Café, Bar und Klub besitzt das Lokal vor allem für die jüngere Generation eine Attraktion, auch zu Gedankenaustausch und Dialog durch ein Programm mit Vorträgen, Lesungen, Ausstellungen. Dass Ideen aus dem „Lokomov“ sogar intervenierend in die Stadtgesellschaft hineinwirken können, hat sich im letzten Jahr augenfällig gezeigt. In wahrlich aufwühlenden Tagen sorgten sie mit der nachhaltigen Mahnung „Die Würde des Menschen ist antastbar“ auf einem großen Plakat für erhebliches Aufsehen.

Chemnitz, die drittgrößte Stadt Sachsens mit heute rund einer Viertelmillion Einwohnern, stand in den Monaten August/September 2018 wochenlang mit beklemmenden Bildern und knalligen Schlagzeilen im Fokus der Öffentlichkeit. Am Rande eines Stadtfestes war es am frühen Morgen des 26. August, einem Sonntag, zu Pöbeleien zwischen Deutschen und Asylbewerbern gekommen. Der hitzige Streit artete in eine Messerstecherei aus, bei der drei Deutsche verletzt wurden. Kurze Zeit später starb eines der Opfer im Krankenhaus, ein 35jähriger Mann. Schon bald kursierten in den Sozialen Medien Gerüchte über sexuelle Belästigungen von Frauen durch Ausländer, die dem wilden Disput vorausgegangen seien. Zugleich forderten Hooligans und rechtsgerichtete Gruppen mit dem Slogan „Lasst uns die Stadt zurückgewinnen“ zu Demonstration am Karl-Marx-Monument auf. Dieses Milieu ist seit Jahren bestens strukturiert und etabliert in Chemnitz, das die DDR-Führung mit der Umbenennung in Karl-Marx-Stadt einmal zu einer sozialistischen Musterkommune herausputzen wollte.

Als die Informationen von Krawallen umlaufen, wird das Stadtfest eilig abgebrochen. An der Stelle des makabren Todesfalls in der Brückenstraße werden Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet. Die Stimmung in der Innenstadt lädt sich bedrohlich auf. Etwa 800 Protestler finden sich am Nachmittag beim „Nischel“ ein, wie die Chemnitzer liebevoll-lästerlich den riesigen Marx-Kopf nennen, darunter viele gewaltbereite Hooligans und rechte Provokateure. Rigoros bahnt sich die Meute den Weg zu einem Marsch durch die City. Dabei kommt es massiv zu Ausschreitungen, Polizisten werden angegriffen, Journalisten bedroht.

Am Rande dieser Demonstration entstehen jene Bilder, die in ganz Deutschland ungewöhnliche Furore machen und im politischen Berlin heftige Kontroversen auslösen: Teilnehmer sprinten aus der Marschkolonne und verfolgen unter rassistischen Beschimpfungen Passanten, die sie für Ausländer halten. Schnell ist der Begriff „Hetzjagden“ in Umlauf, die Debatten über dieses Faktum verschärfen sich immer mehr. Schließlich kosten sie Hans-Georg Maaßen das Präsidentenamt beim Verfassungsschutz.

Der nächste Tag, 27. August 2018, verwandelt Chemnitz geradezu in einen Hexenkessel. Nicht nur   die Rechtsparteien Pro Chemnitz und AfD bringen etwa 4.500 Menschen auf die Beine, auch Gegendemonstranten rekrutieren 1.500 Protestler. 600 Polizisten versuchen mühsam, die Formationen auseinanderzuhalten, doch die Einsatzkräfte in geringer Zahl zeigen sich bald nicht mehr als Herr der Lage.  Rechtsextreme und Neonazis, aus ganz Deutschland inzwischen angereist, rollen die Straßen des Stadtzentrums auf. Es werden ausländerfeindliche Parolen gebrüllt, häufig der Hitler-Gruß gezeigt, Flaschen geworfen, Feuerwerkskörper gezündet, Journalisten angegriffen. Die Straftaten geschehen unter den Augen der Polizei. Ein „Zeit“-Reporter bilanziert: Es ist der Abend, an dem der Rechtsstaat aufgibt.

Unter dem Eindruck dieser erschütternden Ereignisse in ihrer Stadt stecken Aktivisten verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen und Vereine, Teil des Kulturbündnisses „Hand in Hand“, im „Lokomov“ ihre Köpfe zusammen. Zwar sind sie über die schreckliche Gräueltat und deren abgründige Folgen schockiert. Aber die Gespräche kreisen bald darum, was man dagegen machen könne. „Plötzlich kam mir die Idee mit dem Banner“, berichtet die Grafikerin Mandy Knospe vom Klub Solitaer über die Abendrunde. „Das ist eine große Fläche, die man nutzen kann, um irgendein Zeichen zu setzen.“ Ein Telefonat ihres Klub-Kameraden Lars Fassmann, auch eines gut vernetzten IT-Unternehmers, bringt das Okay für eine gewaltige Werbefläche an einem prominent gelegenen Cityhochhaus. Was dann in der folgenden langen Nachsitzung im „Lokomov“ passiert, ist der Erzählung wert.

„Immer wieder tauchte der Begriff Menschenwürde auf“, schildert Benjamin Schürer von der Initiative „re:marx“ den weiteren Verlauf der Diskussion. „Irgendjemand meinte spontan: Eigentlich sollte man daran erinnern, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, wie es im Grundgesetz heißt.“ Die Thematik wurde in der Runde gründlich beraten und gewendet. Man kam schließlich gemeinschaftlich überein, das „un“ wegzustreichen. „Denn das scheint der neue Normalzustand in dieser Stadt zu sein“, meint Schürer. Die Theaterpädagogin Gaby Reichardt begründet diese Überlegungen. Sie sei immer von der Grundannahme ausgegangen, dass alle Menschen gleich sind und eine Würde haben. „Doch ich glaube, dass es diesen kleinsten gemeinsamen Nenner nicht mehr gibt. Mit bestimmten Menschen kann ich nicht mehr darüber verhandeln, weil hier der Konsens fehlt. Eben: dass ein Mensch mit dunkler Hautfarbe auch ein Mensch ist. Oder dass ein Obdachloser die gleichen Rechte hat wie alle anderen Menschen. Da muss man anfangen und anders handeln.“ Solitaer-Mitglied Robert Verch spricht direkt die skandalösen Vorfälle in Chemnitz an: „Es ist dem Staat nicht gelungen, bei den Aufmärschen die Würde aller Menschen zu schützen, etwa der Gegendemonstranten und der Ausländer. Das wollten wir mit unserer Aktion ausdrücken.“ Es ist gleichsam der Blick in eine Geschichtswerkstatt, die sich mit ihrer unbefriedigenden Umwelt kritisch auseinandersetzt und den Mumm zum zivilgesellschaftlichen Engagement aufbringt.

Zwei Tage später flattert am Hochhaus in der Brückenstraße das riesige Plakat mit der Aufschrift: „Die Würde des Menschen ist antastbar – Artikel 1 (1) Grundgesetz, Stand 27.08. 2018“. Das 17 mal 7 Meter große Banner wurde geradezu treffgenau angebracht: Einen Tag vor der als „Trauermarsch“ deklarierten Demonstration am 1. September 2018 unter dem Motto „Wir  vergessen nicht“, auf der die rechte deutsche Szene den Schulterschluss probt. Denn auf der Kundgebung, zu der fast 5.000 Teilnehmer aus dem ganzen Land zusammengetrommelt wurden, gehen Spitzenleute der AfD wie Björn Höcke und Andreas Kalbitz mit Pegida-Propagandisten wie Lutz Bachmann und Siegfried Däbritz, Wortführer der Identitären wie Martin Sellner und Götz Kubitschek sowie Vertreter anderer rechtsextremistischer Zirkel Arm in Arm – ein braunes Gruppenbild, wie es die Republik zuvor nie gesehen hat. Über ihnen prangt das hintergründige Denkzeichen von der angreifbaren Würde.

Die Kreativen aus dem „Lokomov“ ahnen, dass sie bald wieder gefordert sein werden. Schon brüten sie über die nächsten einfallsreichen Projekte, die trotz allem Ernst auch Spaß machen sollen. „Wenn uns das gelingt, ist das genial. Das Konzept der Schrei- und Gegendemos ist einfach nicht mehr förderlich“, meint Thomas Heidenreich von den Chemnitzer Stadtindianern. Denn sie wissen zu genau: Der Schoß ist fruchtbar noch.

Text: Hans-Peter Föhrding / Heinz Verfürth