Nachruf auf Hildegard Hamm-Brücher

Hildegard Hamm-Brücher (1921-2016)

Im Oktober war Hildegard Hamm-Brücher noch einmal ganz in ihrem Element. Die Leidenschaft für ihre Sache hatte die 95-jährige beflügelt, sie traute sich die jetzt für sie so beschwerliche Reise von München nach Berlin zu. Das Ziel: Schloss Bellevue. Der Anlass: Der Bundespräsident wollte sich über neue Ideen für Deutschland unterhalten. Dazu hatte er Schülerinnen und Schüler eingeladen, die bei dem von Hildegard Hamm-Brücher ins Leben gerufenen Wettbewerb „Demokratisch Handeln“ mitgemacht hatten. Das war ihre Sache: Menschen, gerade junge Menschen, für Demokratie und Bürgerrechte, für das großartige Grundgesetz begeistern! Ihrem Charme und ihrer unbekümmerten Hartnäckigkeit in dieser Angelegenheit konnte sich niemand entziehen, kein Bundespräsident, keine vierzehnjährigen „Demokratielehrlinge“, und selbst manch ein Parteiverdrossener spürte bei Gesprächen mit der liberalen Politikerin wieder Lust, anzupacken.

Das dauernde Ringen um die Demokratie, gegen rechte Umtriebe und für eine Stärkung der Bürgergesellschaft waren ihre Lebensthemen, seit sie beschlossen hatte, dass es so etwas wie die Nazi-Herrschaft nicht mehr geben dürfe. 1921 war Hildegard Brücher in Essen geboren worden. Sie wuchs in Berlin auf, bis ihre Eltern früh starben. Sie zog mit ihren Geschwistern zur Großmutter nach Dresden – die sich das Leben nahm, als sie ins KZ Theresienstadt abtransportiert werden sollte. Früh lernte sie selbst Verantwortung zu übernehmen. Während ihres Chemiestudi-ums in München – der Nobelpreisträger Heinrich Wieland schützte seine Doktoran-din vor den Nazis – wurde sie Zeugin, wie die Geschwister Scholl ihr Leben für die Freiheit gaben. Ein Schlüsselerlebnis, Auftrag für die Zeit danach. Sie heuerte nach Kriegsende als Wissenschaftsredakteurin bei der Neuen Zeitung in München an, Erich Kästner war ihr Chef. 1946 folgte eine entscheidende Begegnung: Sie interviewte Theodor Heuss, damals noch nicht Bundespräsident, sondern „Kultminister“ in Württemberg-Baden, und der erkannte: „Mädle, Sie müsset in die Politik!“

Eine für Frauen dieser Generation beispiellose Karriere folgte: Hildegard Brücher trat in die FDP ein (die sie im Jahr 2002 wieder verließ – aus Protest gegen die Dul-dung des antisemitischen Kurses von Jürgen Möllemann), sie zog als jüngste Stadträtin 1948 in den Münchner Stadtrat ein, war zu Zeiten des allmächtigen Franz-Josef Strauß Fraktionschefin im bayerischen Landtag („ich kam mir vor wie ein Hund, der den Mond anbellt“), wurde Staatssekretärin für Bildung, erst in Hessen, dann im Bund, diente später an der Seite von Hans-Dietrich Genscher und unter Helmut Schmidt als Staatsministerin im Auswärtigen Amt. München machte sie zur Ehrenbürgerin, das Land Baden-Württemberg, wo jährlich der von ihr begründete Theodor-Heuss-Preis verliehen wird, zur Ehrenprofessorin.
Doch dieser Ausnahmepersönlichkeit ist mit der Aufzählung von Ämtern und Ehren nicht beizukommen. Hildegard Hamm-Brücher wurde immer respektiert, oft be-wundert und verehrt. Das liegt nicht an ihren politischen Erfolgen, sondern an ihrer Haltung: am unbedingten Eintreten für eine liberale, aufrichtige Politik, an einer Offenheit gegenüber dem Anderen, einer echten geistigen Freiheit. Dass sie Mut, Witz und Freiheitsliebe eines jungen Mädchens mit der Ausstrahlung einer Dame verband, machte sie zu einer der aufregendsten Persönlichkeiten der Bonner Re-publik. Blinde Parteidisziplin und platte Parolen waren ihre Sache nicht. Am Sichtbarsten kollidierte ihre unbestechliche Haltung mit der Wende 1982. Im Bundestag begründete sie mit intellektueller Schärfe, warum der Sturz Helmut Schmidts das „Odium des verletzten demokratischen Anstands“ hatte – eine Sternstunde des Parlamentarismus. Sie bezahlte für ihre Aufrichtigkeit jedoch mit Jahren der Igno-ranz durch Helmut Kohl und die flexiblen Machtpolitiker ihrer eigenen Partei. Erst 1994 schickte die FDP ihre Grande Dame ins Rennen um die Bundespräsidentschaft.

1999 gehörte sie zu den Initiatoren eines großen Fests zum 50. Geburtstag des Grundgesetzes – die Menschen immer wieder für Demokratie und Bürgerrechte begeistern, darum ging es ihr. „Demokratiepolitik“ hielt sie für mindestens so wich-tig wie andere Politikfelder, am besten mit einem eigenen Ministerium! Demokratiepolitik allerdings braucht langen Atem und viele kleine Schritte, daher förderte sie Initiativen, die gegen „National befreite Zonen“ kämpften, unterstützte Schulprojekte und Umweltinitiativen. Immer wieder schrieb sie lesenswerte Bücher, reiste durch die Republik, warb für die fabelhafte Verfassung. Über viele Jahrzehnte war die Theodor-Heuss-Stiftung, die sie 1964 mit Familie und Weggefährten des ersten Bundespräsidenten gegründet hatte, so etwas wie ihr Forum. In der Heuss-Stiftung trafen sich – über alle Parteigrenzen hinweg – die Freigeister der Republik: Richard von Weizsäcker, Gerhart Baum, Helmut Schmidt, Lothar Späth, Hans-Jochen Vogel, Ralf Dahrendorf oder Marion Gräfin Dönhoff, später holte sie Joachim Gauck und andere in diese Kreise. Sie brachte Politikprofis zusammen mit engagierten Vertreterinnen und Vertretern der Bürgergesellschaft, die vor Ort für Demokratie und Bürgerrechte kämpfen. Nur träumen lässt sich, wie ein Deutschland aussähe, das diese Traditionslinie in höheren Ehren hielte.
Die Gratwanderung, eine Spitzenpolitikerin zu sein, ohne sich je von Partei oder Amt vereinnahmen zu lassen, führte auch zu Verhärtungen. Ihre positive Lebenseinstellung („Augen auf und durch!“) ließ sich Hildegard Hamm-Brücher jedoch nicht nehmen, und noch in den letzten Monaten dachte sie intensiv darüber nach, welche Herausforderungen das Flüchtlingsthema für die Weiterentwicklung der Demokratie mit sich bringt.

Verheiratet war Hildegard Hamm-Brücher mit dem Münchner CSU-Stadtrat Erwin Hamm, der 2008 verstarb. Ihre zwei Kinder schirmte das Paar soweit möglich ab.

Hildegard Hamm-Brücher starb am 7. Dezember 2016 im Alter von 95 Jahren in München. In Erinnerung bleibt sie als außergewöhnliche Demokratin, die für viele Bürgerinnen und Bürger zum Vorbild wurde. Sie fehlt. Gerade in diesen Zeiten.

Rupprecht Podszun
Mitglied des Vorstands der Theodor Heuss Stiftung