Laudatio Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Laudatio zur Verleihung des Theodor Heuss Preises 2019 an die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs der Republik Polen, Prof. Dr. Malgorzata Gersdorf, am 11. Mai 2019 in Stuttgart

Es gilt das gesprochene Wort

 

 

Sehr geehrte, liebe  Frau Gersdorf,

sehr geehrte Damen und Herren,

ein hohes Amt mit Hartnäckigkeit und allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verteidigen, ist nicht gerade das Verhalten der Wahl,  wenn man darauf bedacht ist, für sein Tun öffentliches Lob und Anerkennung zu erlangen.

Umso bemerkenswerter ist es, dass mit Malgorzata Gersdorf heute eine mutige Frau geehrt und mit dem Theodor-Heuss-Preis ausgezeichnet wird, die genau das tut.

Den diesjährigen Theodor-Heuss-Preis erhält eine Frau, die es ablehnt, den Anordnungen der polnischen Regierung und des polnischen Parlaments Folge zu leisten.

Die sich unter dem Hinweis auf den Artikel 183  Abs. 3 der polnischen Verfassung, demzufolge sie vom Präsidenten der Republik Polen für eine Amtszeit von sechs Jahren in ihr Amt berufen wurde, beharrlich weigert, eine dagegen gesetzlich angeordnete vorzeitige Versetzung in den Ruhestand zu akzeptieren und ihr Amt als Erste Präsidentin des Obersten Gerichtshofs der Republik Polen aufzugeben.

Dieses gegen die polnische Regierung gerichtete renitente Verhalten bedarf der Erklärung, zumal unsere Preisträgerin überzeugend versichert, daß  sie sich weder „an einen Heizkörper, noch an einen (Amts)Sessel zu fesseln“ gedenke.

So schreibt sie in einem im Dezember 2018 an die polnischen Bürger gerichteten offenen Brief (ich zitiere):

„Um nicht missverstanden zu werden: Ich verteidige nicht meine eigene Position. Ich verteidige die Prinzipien. Mein Amt als Erste Präsidentin des Obersten Gerichtshofs will ich fortführen trotz der alltäglich gegen mich gerichteten persönlichen Angriffe, der Fülle von Lügen und Verleumdungen.

Ich ertrage dies „im vollen Bewusstsein, den Staat zu repräsentieren: als Richter, als Oberster Richter habe ich mein Mandat aus den Händen des Präsidenten der Republik, das heißt, aus den Händen des vom Souverän, dem Volk, gewählten obersten Repräsentanten des Staates erhalten.“

„Mein Mandat,“ so fährt sie fort, „sei insofern keinesfalls schwächer als das der Parlamentarier und sie habe geschworen, den Rechtsstaat zu verteidigen und sich keinem entgegengesetzten Druck zu beugen.“

Aus diesen Worten, sehr geehrte Damen und Herren, dürfte hinreichend deutlich werden, dass es Malgorzata Gersdorf nicht um ihr Amt geht.

Die von der derzeitigen Regierung Polens in einer von der Verfassung nicht gedeckten Weise gesetzlich angeordnete Verkürzung ihrer Amtszeit ist zwar der Anlass, jedoch nicht auch der Grund für ihre anhaltende Widerständigkeit.

Der Grund liegt vielmehr in der Reformpolitik der seit Herbst 2015 von der absoluten Parlamentsmehrheit getragenen Regierung Polens.

Diese hatte sich nach ihrem Wahlsieg unverzüglich daran gemacht, neben dem Presse- und Mediensystem auch das gesamte Justizsystem des Landes einer radikalen Neuordnung zu unterwerfen.

Mit der Behauptung, dies sei erforderlich, um Effektivitätsdefizite, Korporatismus und den Einfluss von Richtern, die in der kommunistischen Vergangenheit Polens ernannt worden waren, zu bekämpfen, wurden zwischen Juli 2016 und Dezember 2018 das polnische Verfassungsgerichtsgesetz, das Gesetz zur Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit, das Gesetz über den Obersten Gerichtshof und das Gesetz über den Nationalen Justizrat umfänglich novelliert.

Es ist diese Politik, genauer, es sind die im Rahmen dieser Politik rücksichtslos vorangetriebenen Bemühungen des polnischen Gesetzgebers, in einem Staat, der nach Art. 2 seiner Verfassung ein demokratischer Rechtsstaat zu sein beansprucht und dessen Ordnung sich gemäß Art. 10 der Verfassung auf das Prinzip der  Gewaltenteilung stützt, die Unabhängigkeit der Justiz massiv zu untergraben, die den Widerstand der obersten Richterin Polens begründen.

Die Vielzahl und die Tiefe der mit den Justizreformen verbundenen Eingriffe der Regierung und des von ihr dominierten Parlaments in die originären Belange der Judikative, darunter auch in die des Obersten Gerichtshofs, zeigen jedenfalls deutlich, dass (ich zitiere)

„Gegen die Struktur einer der wichtigsten Institutionen des Staates ein Staatsstreich im Gange ist – nicht mittels Armee oder paramiitärischer Truppen – aber mit der Übernahme verfassungswidriger Vorkehrungen, die nach Maßgabe der Formel des berühmten Philosophen Gustav Radbruch als gesetzliches Unrecht bezeichnet werden müssen.“

Nach Auffassung juristisch profilierter Kritiker ist

„keine politische Gewalt berechtigt, die Verfassungsstrukturen des Staates wie eine Besatzungsmacht zu zerstören. Die Regierung bewege sich leichtsinnig am Rande des Abgrunds, in den am Ende die Nation zu stürzen drohe“.

„Jedes Gesetz, das dem Prinzip der Unabhängigkeit der Justiz zuwiderläuft, bricht das verfassungsrechtlich garantierte Recht eines jeden Staatsbürgers, wie es als integraler Bestandteil nicht nur unserer europäischen Kultur, sondern unter anderem auch als internationaler Standard im Artikel 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte festgeschrieben ist.“

Nochmal, sehr geehrte Damen und Herren, es geht unserer Preisträgerin nicht um ihre Position, nicht um ihr Amt, sondern allein und sehr viel mehr darum, mit ihrer Weigerung, das Amt der Gerichtspräsidentin aufzugeben, ein unüberhörbares Signal der Unbeugsamkeit gegen diese Angriffe auf die Unabhängigkeit der dritten Gewalt zu setzen.

Es geht darum, ein Signal der Opposition gegen eine von der polnischen Regierung gegen die Vorschriften der Verfassung, also verfassungswidrig in Gang gesetzte und hektisch vorangetriebene Transformation des Justizwesens, der Destruktion des Rechsstaats auszusenden.

Nun, sehr geehrte Damen und Herren, mit der sowohl auf die Inhalte, als auch auf die Begründung abzielenden harschen Kritik an diesen Reformen steht unsere Preisträgerin nicht alleine da.

Neben einer großen Anzahl renommierter politik- und rechtswissenschaftlich tätiger Institutionen der Zivilgesellschaft haben angesichts der polnischen Justizreformen fast alle auf europäischer und internationaler Ebene mit Fragen des Rechtsstaats befassten Institutionen ihre tiefe Besorgnis zum Ausdruck gebracht.

Darunter

·       Die Venedigkommission des Europarates ( Venice Commission of the Counsil of Europe )

·       Das Büro frü Demokratie und Menschenrechte der OSZE ( Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR)

·       Der Menschenrechtskommissar des Europarates (Commissioner for Human Rights of the Council of Europe)

·       Der europäische Juristenrat (Consultative Council of European Judges (CCJE),

·       Menschenrechtskommittee der Vereinten Nationen ( United Nations Human Rights Committee (UNHCR),

·       Netzwerk der Präsidenten der Verfassungsgerichte der EU (Network of Presidents of the Supreme Judicial Courts of the European Union,) und das Europäische Untertstützer Netzwerk der Justiz ( European Network of Councils for the Judiciary (ENCJ),

·       Rat der Anwaltschaften der EU (Council of Bars and Law Societies of Europe (CCBE)

·       und nicht zuletzt der

·       Berichterstatter der UN für die Unabhängigkeit der Richter und Anwälte (United Nations Special Rapporteur on the Independence of Judges and Lawyers).

Es scheint bemerkenswert, dass eine der schärfsten Kritiken an den polnischen Justizreformen von den Vereinten Nationen vorgebracht wurde. Also ausgerechnet von jenem für die Beobachtung und Sicherung der Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten zuständigen UN-Sonderberichterstatter stammt, den die polnische Regierung ausdrücklich um eine Stellungnahme zu ihren Reformbemühungen gebeten hatte.

Der UN-Sonderberichterstatter, Diego García-Sayán, der seinen Bericht im April 2018 vorgelegt hat, ist schonungslos zu dem Ergebnis gelangt, dass durch die Justizreformen die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung in der Republik Polen existenziell gefährdet seien.

Einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung zu Folge, vermutet der UN-Sonderberichterstatter hinter dem polnischen Reformbemühungen die eigentliche Absicht, den verfassungsmäßig geschützten Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz zu beschädigen und der Legislative und Exekutive die Möglichkeit zu geben, in die Judikative einzugreifen.

Gerade in der kumulativen Wirkung der verschiedenen von der Regierung angestoßenen Gesetze verfestigt sich der Eindruck, dass die Justiz unter die Kontrolle der Exekutive und der Legislative gestellt werden soll.

Nach Auffassung des UN-Sonderberichterstatters, García-Sayán ist die Umsetzung der Justizreformen mit einem groß angelegten Propagandaangriff auf das polnische Justizwesen einher gegangen.

Fehltritte einzelner Richter seien instrumentalisiert worden, um ein verzerrtes und falsches Bild eines korrupten, ineffizienten und elitären Justizsystems zu zeichnen.

Insgesamt konstatiert er, dass Polen über die Missachtung nationaler rechtstaatlicher Grundsätze hinaus, auch regionale und internationale Abkommen, die die Gewaltenteilung und die richterliche Unabhängigkeit garantieren, massiv verletzt.

So verstoße Polen gegen den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die Europäische Menschenrechtskonvention, den Vertrag über die Europäische Union sowie gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Ultimativ wird Polen aufgefordert, alle gegen internationale Standards verstoßenden Maßnahmen aufzuheben, rückgängig zu machen oder durch Änderungen in Einklang mit internationalem Recht zu bringen.

Die Stellungnahme des UN-Sonderberichterstatters reiht sich damt ein in die Empfehlungen der Europäischen Kommission, der Venedig-Kommission des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Euroa (OSZE).

 

Von dieser breiten Resonanz, die die Vorgänge in Polen über die nationale Ebene hinaus auf der europäischen, regionalen und der internationalen Ebene hervorgerufen haben, kann sich unsere Preisträgerin voll und ganz bestätigt fühlen.

 

Denn auch sie betont, dass es in Polen nicht nur um Polen, sondern „um unsere gemeinsame Zukunft, um den Markenkern der Europäischen Union, nämlich um Rechtsstaatlichkeit und Beachtung der Menschenrechte geht.“

 

Diese, „unsere gemeinsame europäische Zukunft, dürfe nicht morgen zu einer traurigen Erinnerung werden.“

Damit gemahnt unsere Preisträgerin uns eindringlich daran, dass sich die Vorgänge in Polen in die unsäglichen Entwicklungen einreihen, die wir derzeit, mehr oder weniger intensiv, in vielen EU-Mitgliedstaaten und darüber hinaus in der Türkei, in Russland und auch in den Vereinigten Staaten von Amerika beobachten müssen.

Tendenzen, aus denen vor allen uns Europäern nun eine Verantwortung zuwächst, die durchaus als welthistorisch zu bezeichnen ist.

 

Eine aus der Freiheit geborene Verantwortung für die freiheitliche Demokratie, der wir uns auch als Vereinigtes Europa mit Nachdruck und Konsequenz zu stellen haben, wenn wir nicht als Generation der Versager in die Geschichte eingehen wollen. Ja, es geht im 70. Jahrestag des Grundgesetzes um viel: Um die Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaats in Deutschland und in Europa, um die wertegebundene Demokratie, die Mehrheitsentscheidungen eines demokratisch gewählten Parlaments die grundrechtlich garantierten Rechte der Minderheit entgegensetzt. Um einen Rechtsstaat, der nicht in den formell korrekten Regelabläufen seinen einzigen Zweck sieht,  sondern materiell an die Grundrechte gebunden ist, die auch einfachgesetzlich mit Mehrheitsentscheidung nicht in ihrem Kernbereich ausgehöhlt werden dürfen.

 

Deshalb steht die 54. Preisverleihung  unter dem Jahresthema “ Jedem seine Demokratie? Keine Demokratie ohne Rechtsstaat.” Kein Demokratie ohne die Stärke dieses so verstandenen Rechts, um die Transformation in einen autoritären Schutzstaat zu verhindern.

 

Was ist das nun, was nicht nur in Polen, sondern derzeit in ganz Europa vor sich geht?

 

Kaum ein europäisches Land, in dem rechtsextreme populistische Bewegungen und Parteien mit ihrer völkisch-nationalistischen, zuweilen ins rassistische abgleitenden Ideologien nicht eine durchaus nennenswerte und wachsende Anhängerschaft finden und hier und da, wie vor allem in Polen, Ungarn, Österreich und seit kurzem in Italien sogar beängstigend große Wahlerfolge erzielen.

 

Wenngleich in unterschiedlichen Ausprägungen ist allen diesen Bewegungen und Parteien das Bestreben gemeinsam, ein autokratisches Herrschaftssystem zu etablieren, um mit dessen Hilfe einen ethno-nationalistischen Staat, eine, wie der

ungarische Ministerpräsident, Victor Orban sagt, sogenannte „illiberale Demokratie“ zu errichten.

 

In solchen angestrebten „illiberalen Demokratien“ sind die Presse-, Meinungs- und  Religionsfreiheit und die Grundrechte in ihrer Funktion als Minderheitenschutzrechte ebenso, wie die Gewaltenteilung  und die Unabhängigkeit der Justiz nur störende Elemente eines vorgeblich fehlgeleiteten westlichen Liberalismus.

 

Elemente, die zu Gunsten eines starken, an traditionellen nationalen Werten orientierten, ethnisch und kulturell homogenen Nationalstaates überwunden werden müssen.

 

Zur Verwirklichung dieses Ziels glauben die Protagonisten dieser Politik, in den Worten Orbans „Mit den liberalen Prinzipien und Methoden der Organisation einer Gesellschaft und überhaupt mit dem liberalen Verständnis von Gesellschaft brechen (zu müssen)“.

 

Und auch Jaroslaw Kaczynsky verkündet, dass es die Unabhängigkeit der Justiz ist, die dem angestrebten Umbau der pluralistischen, liberalen und demokratischen in eine völkische, homogene, nationalistische und traditionalistische Gesellschaft im Wege steht.

 

Deshalb sagt er: „Wenn wir die (Justizreformen) nicht durchführen, haben alle anderen Reformen keinen Sinn. Bei der Justiz, die wir haben, würde alles früher oder späer negiert und verworfen werden.“

 

Mit der anmaßenden Behauptung, dass nur sie die wahren Demokraten, dass sie die Vollstrecker des allgemeinen Volkswillens seien, suchen diese Parteien all jene Elemente des Rechtsstaats außer Kraft zu setzen, die die demokratische Grundordnung in eine freiheitliche demokratische Grundordnung verwandeln und die die Demokratie daran hindern, zu einer Despotie der Mehrheit zu entarten.

 

In einer Rede, die der polnische Staatspräsident Duda am Abend des 3. Dezember 2015 im staatlichen Fernsehen hielt, gab er bekannt, dass er sich als Wächter der Verfassung und der Kontinuität der Staatsgewalt, zur Ernennung der Tags zuvor in verfassungsrechtlich höchst bedenklicher Weise gewählten Richter entschlossen habe.

 

Er habe sich dazu entschieden, um die „unnötigen Zwistigkeiten zu beenden, welche die Autorität der wichtigsten Institutionen des polnischen Staates untergraben.“

 

Und dabei habe er sich „vom Willen des neugewählten Parlaments leiten lassen, in das die Polen eine so gewaltige Hoffnung auf die Erneuerung der Republik setzten.“

 

Was heißt das, sehr geehrte Damen und Herren: Nicht etwa die Verfassung, weder ihr Wortlaut noch ihr Geist, so lautet der Subtext der Präsidentenrede, sondern der Wille des Parlaments, das heißt, der Mehrheitswille ist für sein Handeln maßgeblich.

 

Damit stellt Duda sich eindeutig auf die Seite der Legislative und lässt seine Entscheidungen zu einer Funktion ihres Willens werden.

 

Ein Staat aber, in dem das Recht nicht nur aus den Willen des Parlaments abgeleitet, sondern mit dem Willen der Parlamentsmehrheit gleichgesetzt wird, mag man zwar demokratisch nennen, freiheitlich demokratisch und rechtsstaatlich ist er aber nicht.

 

Das alles, sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, verheißt für uns, verheißt für den europäischen Kontinent und, vor allem, für das Projekt des Vereinigten Europas nichts Gutes.

 

Innerhalb der Europäischen Union sind es vor allem Ungarn und Polen und außerhalb der EU vor allem die Türkei und Russland, die am weitesten fortgeschritten sind auf dem Weg zurück in die dunkelste europäische Vergangenheit und die mit dem desaströsen Ergebnis der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl zusätzlichen Aufwind erhalten haben.

 

So ist leider auch damit zu rechnen, dass all jene Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die sich um eine Vertiefung und politische Fortentwicklung des Vereinigten Europas auf der Grundlage des Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union bemühen, neben den EU-internen Widerständen auch mit externen, amerikanischen Störmanövern zu rechnen haben. Art 2 nennt die Werte, auf die sich die Europäische Union gründet:  die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diesen Werten verpflichten sich die Mitgliedstaaten mit ihrem Beitritt. Art. 2 ist insofern kein bloßer Programmsatz, sondern gültiges EU-Vertragsrecht und damit für alle Mitgliedstaaten verbindlich.

Amerikanische Störmanöver a la Donald Trump, der im krassen Gegensatz zu Barak Obama, der zum Beispiel das Vereinigte Königreich noch ausdrücklich vor dem Austritt aus der Europäischen Union gewarnt hatte, die Pro-Brexit-Entscheidung der Briten „is going to be a wonderful thing“ nannte.

 

Zur ostentativen Untermauerung seiner europafeindlichen Haltung war dem amerikanischen Präsidenten daran gelegen, als eine der ersten europäischen Gäste die Vorsitzende der rechtsextremistischen und europafeindlichen Rassemblement National, Marine Le Pen, im Trump Tower zu empfangen.

 

Auch ließ er es sich nicht nehmen, den Anführer der britischen Brexitbefürworter, Nigel Farage, als britischen Botschafter in den USA vorzuschlagen.

 

Und er, Trump, sei überhaupt der Ansicht, dass die EU nur ein „Mittel zum Zweck für Deutschland“ und dazu da sei, den USA im Handel Konkurrenz zu machen.

 

Es sind solche Stellungnahmen der amerikanischen Administration, die man getrost dem Konto der amerikanischen America-First-Politik gutschreiben kann, die aber dennoch auch eine nicht zu unterschätzende Sprengkraft im Inneren der Europäischen Union zu entfalten in der Lage sind.

 

Alles in allem, sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, werden wir zu Zeitzeugen massiver Angriffe auf die Legitimität und die Rechtsstaatlichkeit der demokratischen Regierungssysteme innerhalb und außerhalb der Europäischen Union.

 

Uns darf aber die liberale Mitte nicht verloren gehen.

 

Uns muss das Ergebnis einer Reihe jüngst erschienener Anlalysen (Boris Barth) zu denken geben, wonach in der Zwischenkriegsperiode von 1919 bis 1939, in der mit Ausnahme Russlands alle Europäischen Staaten den Schock des ersten Weltkriegs mit einem demokratischen Neubeginn zu überwinden suchten, mit Ausnahme weniger Staaten, wie das Vereinigte Königreich, Frankreich und die skandinavischen Länder, die allermeisten Staaten von der Demokratie in diktatorische Ordnungssysteme abgeglitten waren.

 

Entscheidend für diese Entwicklung war weniger die Stärke der Diktatoren oder die besondere Anziehungskraft ihrer Ideen oder ihrer Bewegungen, sondern die Schwäche der Demokratie.

 

Vor allem der Zusammenbruch derjenigen freiheitlich ausgerichteten Parteien, die innerhalb des jeweiligen parlamentarischen Systems Brückenfunktionen wahrnehmen konnten und die Fähigkeit besaßen, nicht zu polarisieren, sondern systemisch integrierend zu wirken.

 

Überall, wo derartige Parteien weiter existierten, überlebte auch die Demokratie.

 

In denjenigen Fällen jedoch, in denen sich Krisenphänomene überlagerten, verstärkte sich auch bei den politisch rechts- und politisch linksstehenden Eliten die Versuchung, Zuflucht zu autoritären Regierungsformen zu nehmen und schnelle exekutive Entscheidungen den scheinbar ineffektiven parlamentarischen Prozeduren vorzuziehen. [i]

 

Gewiss, dieses Analyseergebnis mag zwar ein politisches Phänomen, nämlich das des Schrumpfens liberaler Einstellungen und Gewissheiten im Vorfeld der Entstehung autoritärer Regierungssysteme richtig beschreiben, eine Erklärung für dieses Phänomen liefert die Analyse aber nicht.

 

Ein Teil dieser Erklärung könnte darin bestehen, dass der politische Liberalismus, dessen Denken sich um die für ihn konstitutiven Begriffe von Freiheit, Eigenverantwortung  und Vernunft  rankt, nie, und wenn, dann nur um den Preis seiner Selbstaufgabe populistisch sein kann.

 

Das macht ihn schwach, zumal in unübersichtlichen  und unsicheren Zeiten, in denen sich der einzelne tatsächlich oder vermeindlich vermehrt vor als existenziell empfundene Probleme gestellt und zu Entscheidungen gedrängt sieht, das heißt, der Zumutungscharakter von Freiheit überdeutlich wird.

 

Die Zumutung der Freiheit, der offensichtlich nicht wenige Menschen durch die Delegation ihrer Souveränität  an den autoritären Staat zu entfliehen suchen.

 

Mit dieser Erkenntnis, wenn sie denn als solche begriffen wird, werden wir uns alle auseinandersetzen müssen.

 

Nochmals, sehr geehrte Damen und Herren, wir müssen Verantwortung übernehmen.

 

Verantwortung für die Freiheit, für die freiheitliche Demokratie, der wir uns, der wir uns als Vereinigtes Europa mit allem Nachdruck und in aller Konsequenz zu stellen haben, wenn wir nicht die Generation der europapolitischen Versager sein wollen.

 

Dieser nicht auf die leichte Schulter zu nehmende Befund, verweist darauf, dass Verfassungen, seien sie noch so gut und noch so wehrhaft, die Demokraten und nicht zuletzt die demokratische Politik nicht von der Aufgabe und Pflicht entbinden können, die grundrechtswahrenden Potenziale der Verfassungen in der politischen Praxis auch wirklich zur Geltung zu bringen.

 

Genau das ist es, was unsere Preisträgerin mit ihren Worten und unter Ausschöpfung ihres Handlungsspielraums vorbildlich zum Ausdruck bringt, dass der freiheitliche Rechtsstaat zu seiner Sicherung nicht nur der Wehrhaftigkeit der verfassten Demokratie, sondern und vor allem der wehrhaften Demokraten bedarf.

 

Wir brauchen Demokraten, wie Malgorzata Gersdorf, die sich bewusst sind, dass allein die  Wertbindung der Demokratie und die Menschenwürde- und Wesensgehaltsgarantien, wie sie in fast allen europäischen Verfassungen verankert sind, die nur formal-demokratische Grundordnung in eine freiheitliche demokratische Grundordnung zu verwandeln in der Lage ist.

Wir brauchen Demokraten, die ihre Zuneigung zu und ihren Respekt vor dem Land, vor dem Staat, in dem sie leben, in einem Patriotismus zum Ausdruck bringen, der sich nicht eines irrationalen ethnisch völkischen Nationalismus bedient, sondern auf die freiheitliche, rechtsstaatliche und demokratische Verfasstheit des Gemeinwesens  bezogen ist.

 

Wir brauchen Demokraten, die aus historischer Einsicht immunisiert sind gegen die heute allerorten als sogenannte Identitäre auftretenden Lehren der neuen konservativen Revolutionäre, die das Wesen und den Inbegriff von Politik auf die Unterscheidung des Eigenen vom Fremden, auf die Untrscheidung von Freund und Feind reduzieren.

 

Wenn und solange wir an gesellschaftlichem Zusammenhalt überhaupt interessiert und nicht bereit sind, eine zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft mit allen ihren Konsequenzen in Kauf zu nehmen, bleibt nur die Möglichkeit, einen auf die republikanische, freiheitliche und demokratische Verfassung abstellenden, in den Herzen und Köpfen möglichst aller Bürgerinnen und Bürger verankerten Verfassungspatriotismus zu befördern.

 

 

Kurz, sehr geehrte  Damen und Herren, wir brauchen Verfassungspatrioten, wie sie von unserer heutigen Trägerin des Theodor-Heuss-Preises, Malgorzata Gersdorf, in so vorbildlicher Weise verkörpert sind.

 

Wir brauchen Patrioten, die ihr Land, den Staat in dem sie leben, seiner heilsamen Gesetze wegen lieben und achten.

Lassen sie mich, sehr geehrte Damen und Herren, meine Lobrede auf unserer Preisträgerin, Malgorzata Gersdorf, mit einem Zitat des geistigen Urhebers des Verfassungspatriotismus, Dolf Sternberger, beschließen:

 

„Der Zweck der Verfassung“, so sagt Sternberger, „ist die Freiheit. Und Freiheit herrscht in einem Gemeinwesen dann, wenn dieses seinen Angehörigen nicht bloß individuelle Freiheit gewährt bis zur Grenze des Gesetzes, sondern wenn es Freiheit selber schafft, bildet, hütet, verteidigt und lehrt“

 

Freiheit schaffen, bilden, hüten, verteidigen und lehren, das könnten gut die Schlagworte des Banners sein, mit dem seine Trägerin, die Erste Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Polens, Frau Professor Dr. Malgorzata Gersdorf, ihre Verantwortung für die Idee vom Vereinigten Europa in einer für uns alle vorbildlichen Weise zum Ausdruck bringt.

 

Dafür schulden wir ihr Hochachtung und Dank.

[i]           Boris Barth: Eu­ropa nach dem großen Krieg, Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2016

 

 

CHARTA DER GRUNDRECHTE DER EUROPÄISCHEN UNION

Präambel

Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.

In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.

Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitglied­staaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei. Sie ist bestrebt, eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung zu fördern und stellt den freien Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit sicher.

 

 

 

 

KAPITEL VIII
GERICHTE UND GERICHTSHÖFE

Artikel 173

Gerichte und Gerichtshöfe sind eine eigene und von den anderen Gewalten unabhängige Gewalt.

Artikel 174

 

Artikel 2.

Die Republik Polen ist ein demokratischer Rechtsstaat, der die Grundsätze gesellschaftlicher Gerechtigkeit verwirklicht.

 

Artikel 9

Die Republik Polen befolgt das Völkerrecht, das für sie verbindlich ist.

Artikel 10

1.   Die Ordnung der Republik Polen stützt sich auf die Trennung und das Gleichgewicht der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt.

2.   Die gesetzgebende Gewalt üben Sejm und Senat, die vollziehende Gewalt der Präsident der Republik Polen und der Ministerrat, die rechtsprechende Gewalt Gerichte und Gerichtshöfe aus.

 

Art. 30 Die Würde des Menschen ist ihm angeboren und unveräußerlich. Sie bildet die Quelle der Freiheiten und Rechte des Menschen und des Staatsbürgers. Sie ist unverletzlich, ihre Beachtung und ihr Schutz ist Verpflichtung der öffentlichen Gewalt.

Artikel 31

1.   Die Freiheit des Menschen steht unter dem Schutz des Rechtes.

2.   Jedermann ist verpflichtet, die Freiheiten und Rechte der anderen zu beachten. Niemand darf zu etwas gezwungen werden, was ihm nicht durch das Recht geboten ist.

3.   Einschränkungen, verfassungsrechtliche Freiheiten und Rechte zu genießen, dürfen nur in einem Gesetz beschlossen werden und nur dann, wenn sie in einem demokratischen Staat wegen seiner Sicherheit oder öffentlicher Ordnung oder zum Schutz der Umwelt, Gesundheit, der öffentlichen Moral oder der Freiheiten und Rechte anderer Personen notwendig sind. Diese Einschränkungen dürfen das Wesen der Freiheiten und Rechte nicht verletzen.

 

Artikel 183

1.   Das Oberste Gericht führt die Aufsicht über die Tätigkeit der ordentlichen und Militärgerichte im Bereich richterlicher Entscheidungen.

2.   Das Oberste Gericht übt auch andere in der Verfassung und in Gesetzen bestimmte Tätigkeiten aus.

3.   Der Erste Präsident des Obersten Gericht wird vom Präsidenten der Republik Polen für eine 6-jährige Amtszeit aus der Mitte der Kandidaten berufen, die von Generalversammlung der Richter des Obersten Gericht vorgeschlagen worden sind.