Kolloqium zum Jahreshema
Bericht R. Podszun

Kolloquium der

Theodor Heuss Stiftung zur Preisverleihung 2017

 

Anerkennung im Streit

Krisenkommunikation in Zeiten von Twitter, Terror und Trolls

 

Jan Hofmann seufzt. Er sitzt im Publikum des Kolloquiums zur Preisverleihung im Jahr 2017. „Anerkennung im Streit“, so ist die Preisverleihung in diesem Jahr überschrieben, und im Kolloquium soll es um „Krisenkommunikation in Zeiten von Twitter, Terror und Trolls“ gehen. Jan Hofmann ist Chef des Förderprogramms Demokratisch Handeln, er war einmal Kultusstaatssekretär in Sachsen-Anhalt. „Als wir mit viel Aufwand eingeladen haben, sich an einem Kulturkonvent mit Ideen zu beteiligen, Online-Partizipation, niedrigschwellig – da tröpfelten nur einige wenige Rückmeldungen bei uns ein“, berichtet er, „aber …“.

 

Und bevor wir zum großen Aber kommen, sei noch einmal ganz kurz vor Augen geführt, wofür das Internet auch einmal stand: für die Vorstellung davon, dass demokratische Prozesse besser, inklusiver organisiert werden können. Dass liquides Feedback möglich wird. Dass sich jeder in die Debatten einbringen kann, die im Gemeinwesen sonst angeblich in den Hinterzimmern der Parteien geführt werden. Das Internet als ein großer Freiheitsraum, als die neue Agora der demokratischen Meinungsbildung, jeder beteiligt sich, geringe Hürden für diejenigen, die gestalten wollen, wie ihre Umwelt aussieht. Diese Vorstellungen, die wir auch in der Theodor-Heuss-Stiftung noch vor wenigen Jahren intensiv diskutierten, wirken heute weit entfernt. Der Login im Internet als Tor zum Mitmachen in der Demokratie, in der alle etwas zu sagen haben?

 

Im Jahr 2017 wirkt es eher so, als dominiere der Streit. Nicht ohne Grund ist der Titel zum Theodor-Heuss-Preis-Kolloquium mit „Krisenkommunikation“ überschrieben. Als schon lange diskutiert wird, fragt Jana Wüstenhagen von der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg, um welche Krise es den Panelisten dieses Kolloquiums überhaupt gehe? Ja, wo anfangen? Timothy Garton Ash, der Preisträger in diesem Jahr, Osteuropaexperte und Intellektueller von europäischem Rang, hat als wichtigste Krise das Erstarken der nationalistischen Populisten in Ländern wie Ungarn, Polen, der Türkei, aber auch den USA vor Augen. Marcus da Gloria Martins, der besonnene Kommunikationschef der Münchner Polizei, denkt bei Krise an Terroreinsätze seiner Kollegen, in denen er kühlen Kopf bewahren muss. Melanie Amann, Spiegel-Redakteurin mit Zuständigkeit für die AfD, bezeichnet die dauernden Eskalationen in ihrem Verhältnis zur AfD als Krise: die permanente Sorge, von einer beobachtenden Journalistin zur Aktivistin zu werden, eine Kommunikationskrise sozusagen. Und Katharina Nocun, Onlineaktivistin und ehemalige Bundesgeschäftsführerin der Piraten, die vierte Panelistin, verortet die eigentliche Krise weniger in unserem Umgang miteinander in der Netzwelt als darin, dass diese Netzwelt immer mehr von Monopolen beherrscht wird. Die Welt im 21. Jahrhundert ist in einem permanenten Ausnahmezustand, fiebrig, und in allen beschriebenen Krisen spielen die Onlinemedien, die so anders sind als die ehrwürdigen Zeitungen, mit denen viele in der Theodor-Heuss-Stiftung politisch groß geworden sind, eine gewichtige Rolle. Es ist Zeit, über Krisenkommunikation in der Demokratie zu diskutieren – und über die Frage, ob der ganze Streit nicht auch etwas Positives hat, nämlich ein Element der Anerkennung.

 

Anerkennung jedenfalls hat Jan Hofmann nicht erfahren, und damit sind wir wieder bei seinem „aber“, als er in seiner Funktion als Staatssekretär einen Schulleiter einbestellte, der in einer Verbandszeitschrift von einer „Immigranteninvasion“ geschrieben hatte. Diese Einbestellung war aus Hofmanns Sicht ein normaler Vorgang, eine Sachverhaltsermittlung. Die Reaktion aber waren Massen an hasstriefenden E-Mails, die bei ihm eingingen, mit herber Kritik, Beleidigungen, Beschimpfungen. Das ist die Realität der Onlinepartizipation: Jeder kann mitmachen. Das nächste Politiker-Bashing ist nur einen Click entfernt.

 

Nun mag man einwenden, dass Politiker und Politikerinnen so etwas aushalten müssen. Doch der Hass trifft viele, auch schwächere Mitglieder der Gesellschaft, gerade in den Ländern, in denen die Mächtigen das Netz für sich arbeiten lassen. Wer vom US-Präsidenten auf Twitter beleidigt wird, hat es sicher schwerer, das einfach auszuhalten. Bei allen Vorzügen des Netzes, auf die etwa die Publizistin Beatrice von Weizsäcker in der Diskussion hinweist, hat sich doch auch eine Kommunikation aufgeschaukelt, die erschreckende Züge angenommen hat.

 

Für den politischen Raum stellte Isabel Fezer, Gastgeberin und Bürgermeisterin der Stadt Stuttgart, eine ganz praktische Frage an das Kolloquium: Wie reagiere ich im Umgang mit der AfD, wenn sie mir im Stadtrat gegenübersitzt? Welche Plattformen darf ich Ihnen bieten, wie kann ich sie inhaltlich stellen, welche Kommunikationsformen lasse ich zu? Diese Frage, Ende März 2017 noch am Beispiel des Stuttgarter Stadtrats diskutiert, stellt sich zum Ende des Jahres 2017 bekanntlich auch auf bundespolitischer Bühne, und es sieht auch jetzt noch nicht so aus, als würden die übrigen Parteien so recht wissen, wie sie mit der AfD umgehen sollen. Begeben wir uns also auf eine Spurensuche anhand dessen, was die vier genannten Panelisten aus ihren Erfahrungen berichteten.

 

Timothy Garton Ash gab den Ton vor, und dieser Ton war durchaus provokant. Er meint, es brauche „robuste Zivilität“. Sein aktuelles Buch „Redefreiheit“ ist ein Loblied auf die Freiheit der Rede. Aushalten müsse man vieles, jedenfalls viel mehr, als manche Regulierer gern untersagen würden. Thilo Sarrazins Thesen sind für ihn ein Beispiel. Was Sarrazin aufbringt, ist für Garton Ash das Ergebnis eines vermiedenen Diskurses. Wer unangenehme Themen zu lange nicht offen diskutiert, brauche sich nicht zu wundern, wenn sie eines Tages giftig in die Gesellschaft kommen. Hätte man vorher mehr „robuste Zivilität“ in der Diskussion bewiesen, wäre das für die „deliberative Demokratie“ sehr viel besser gewesen. Dabei übersieht Garton Ash die großen Schwierigkeiten seines sehr freiheitsgetriebenen Modells nicht. Er identifiziert drei große Probleme: erstens die Echokammern. Bei Facebook finden Nutzer vor allem ihre eigene Meinung bestätigt, sie werden aber nicht mit anderen, kritischen Positionen konfrontiert. Der Echokammer-Effekt verstärkt den Glauben an die Unfehlbarkeit der eigenen Meinung. Zweitens sieht Garton Ash ein Problem in der Not der traditionellen Medien: Um zu überleben, schreien sie um Aufmerksamkeit, führen Nachrichten nach ihrer Klickreichweite ins Feld und sensationalisieren dadurch Debatten, die mit ruhigerer Stimme besser zu führen wären. Drittens ist es der Umgang mit den privaten Supermächten, die in immer stärkerer Weise entscheiden, was Nutzer zu sehen bekommen. Wo Algorithmen die Nachrichtenauswahl nach Kommerzinteressen der Silicon Valley-Unternehmen steuern, ist für ihn die offene Debatte gefährdet.

 

Private Macht im Internet ist ein Thema, das Katharina Nocun auf die virtuellen Barrikaden bringt: „Wir haben diese wundervolle öffentliche Agora, wo jeder etwas sagen kann zu allem, was einen bewegt. Wir treffen uns aber gar nicht auf einem Marktplatz sondern in einer Shopping Mall.“ Garton Ash gibt ihr Recht: Die globale Öffentlichkeit ist erstmals in privatem Besitz, so formuliert er es. Nocun fordert daher eine intensive Plattformregulierung, Garton Ash die Transparenz von Algorithmen. Es ist aber eine Gratwanderung, natürlich, denn wie sollen die Regeln für das Internet aussehen? Nocun und Garton Ash illustrieren es am Beispiel der US-Normen, die derzeit bestimmen, was bei Facebook zu sehen ist: Die entblößte Brust einer stillenden Mutter wird zensiert, brutale Gewaltdarstellungen werden toleriert. Dahinter stehen kulturelle Normen. Müssen wir diese anerkennen? Und spielen wir damit nicht solchen Regimes in die Hände, die – ob in China oder Russland – sich gern auf kulturelle Unterschiede berufen, um ihre sehr eigenen Regeln durchzusetzen? Melanie Amann findet die aktuellen Regulierungsversuche der deutschen Politik „hilflos“. Nocun schlägt den Blick zur Technik vor: Ein Peer-to-Peer-Netzwerk, das niemandem gehört, wäre technisch machbar – ein ultimativer Freiheitsraum, man müsste es nur probieren. „Code is law“, diese inzwischen zur Binsenweisheit geronnene Erkenntnis der digitalen Welt, würde so quasi ins Gegenteil verkehrt: Freiheit durch Technik. Garton Ash setzt eher auf den Nutzer, der sich den Monopolen entziehen müsse. Profit sei die Sprache, die sie besser verstehen als hoheitliche Regulierung.

 

Was die Regulierung und die Bekämpfung mit Hilfe „robuster Zivilität“ angeht, differenziert Garton Ash: Hate Speech, Meinungsäußerungen, und seien sie noch so düster, will er aushalten können. Einzuschreiten sei nur bei Dangerous Speech. Was wirklich gefährlich sei, das könne man nur empirisch herausfinden. Da ist er ganz Brite, zurück zu den Fakten, runter vom hohen Ross einer idealistischen, abstrakten Theorie.

 

Marcus da Gloria Martins, der Medaillenträger, ist so ein Praktiker, der täglich mit Hate Speech und Dangerous Speech zu tun hat. Für seine Art der „counter speech“ wird er in diesem Jahr ausgezeichnet. Als Pressesprecher der Münchner Polizei, also einer Behörde, unterliegt er ganz anderen Bindungen als ein Privater. Das, was er und seine Kollegen vom Twitter- und Facebook-Team der Münchner Polizei stehen lassen müssen auf ihrer Seite, weil es eben der Meinungsfreiheit unterfällt, widert ihn zum Teil an. Aber die Grenzen werden derzeit durch die Rechtsprechung weit gezogen, und als Behördenvertreter ist da Gloria Martins an Recht und Gesetz gebunden. Er darf keine Fehler machen, keine Meinungen ausschließen, die sich noch gerade im Rahmen des Rechtlichen bewegen. Das bereitet ihm, so wörtlich, „Schmerzen“. Dass er wiederum in seinen engen Grenzen so besonnen und dennoch wirkungsvoll arbeitet, das lässt sich nur erklären mit besonderem Einsatz, aber auch mit einer intensiven Vorbereitung. Der Praktiker da Gloria Martins – bundesweit bekannt geworden beim Amoklauf im Münchner OEZ – hat seine Abschlussarbeit an der Polizeihochschule bereits über Krisenkommunikation geschrieben.

 

Der Polizist und die Journalistin Melanie Amann haben die Erfahrung gemacht, dass die Diskussion oft eskaliert, wenn es um Migration geht. „Über Cannabis-Legalisierung können Sie auch im Netz intelligente, funktionierende Diskussionen führen, aber bei Migration eskaliert die Diskussion binnen Minuten“, berichtet der Twitter-Kommissar. Amann kennt ähnliche Situationen von AfD-Parteitagen, wo sie als kritische Journalistin gelegentlich verhöhnt, beschimpft oder beleidigt wird. Aber sie differenziert: Die AfD ist für sie eine heterogene Partei; die vielen unterschiedlichen Charaktere hat sie in ihrem Buch „Angst für Deutschland“ charakterisiert. Und so entspinnt sich beim Kolloquium eine Diskussion um eine Schlüsselfrage in einem Trialog zwischen Reni Maltschew, Isabel Fezer und Melanie Amann: Maltschew fragt zu Amanns Charakterisierung der vielschichtigen Charaktere bei AfD und Pegida, wie sich differenzieren lässt: „Wen kriege ich noch und bei wem lohnt es nicht mehr?“ Amann: „Es gibt sie, die Abgehängten, die Aggressiven, die mit ihrem tief sitzenden Zorn einfach nicht mehr erreichbar sind. Da sage ich dann auch: darum muss ich mich nicht kümmern.“ Das ruft die Bürgermeisterin Fezer auf den Plan: „Wir dürfen niemanden in der Demokratie verloren geben!“ Reden, reden, es hilft ja nichts. Garton Ash sekundiert: „Wenn ich einem entgegentrete, der mir nur „Fuck“ entgegenschleudert, und den höflich und direkt anspreche, stelle ich oft fest: Das ist ein interessierter Mensch, mit dem man reden kann und muss.“

 

Und plötzlich ist dieser Begriff da, der im Thema des Heuss-Preises steht – Anerkennung. Gesine Schwan bringt das auf den Punkt: Geht es darum, Menschen durch Anerkennung zu gewinnen?   Vielleicht sind recht viele dieser Menschen, die Protest wählen, die aber auch Fremdenfeindlichkeit wählen, Menschen, die in dieser Demokratie zu wenig anerkannt wurden, nicht zuletzt, weil ihre Themen nicht verhandelt wurden. Melanie Amann warnt ausdrücklich vor Überheblichkeit: Es genüge nicht zu sagen, „wir sind die Guten“ und wohlmeinend Anerkennung oder Ratschläge zu verteilen. Die AfD-Anhänger behaupten auch von sich, sie seien die Guten, sie brächten die Demokratie zurück angesichts der aus ihrer Sicht vermiedenen Themen.

 

Garton Ash betont die Differenzierung zwischen der Anerkennung für den Menschen und der für seine Inhalte oder sein Glaubensbekenntnis. Diese schwierige Trennung, die muss man üben, genauso wie man die Redefreiheit lernen muss. Sie ist wie eine Seefahrt, so beschreibt er es unter Rückgriff auf Michel Foucault, eine Technik. Die Navigation liegt bei uns, wenn das Schiff auf den Ozean des Internets fährt, aber der Staat muss es auch aus dem Hafen lassen, das ist die wichtige Voraussetzung, die nicht vergessen werden darf. Da Gloria Martins appelliert noch einmal an die Rolle der Politik für den Diskurs. Er wünscht sich, privat versteht sich, nicht als Beamter, „mehr Ehrlichkeit, mehr Klarheit, mehr Deutlichkeit in der Kommunikation mit unserer Bevölkerung, weniger politikberatenes Taktieren vor dem Hintergrund von Wahlergebnissen“.

 

Es kristallisiert sich etwas heraus, eine Idee der demokratischen Öffentlichkeit, die auf die Anerkennung von Menschen – nicht zwingend Positionen – setzt, die den Streit aushält, ihm mit robuster Zivilität begegnet und sich der Macht der Technik bewusst ist. Da wirft Gari Pavkovic, Abteilungsleiter für Integration bei der Stadt Stuttgart, einen geradezu revolutionären Gedanken ein: Er spürt in seiner Arbeit eine Sehnsucht nach direkten Gesprächen. „Face-to-face-Kommunikation“, heißt das heute natürlich. Das miteinander reden in der Stadtgesellschaft wird vielleicht wieder wichtiger. Globales Netz hier, individueller Kontakt dort. Eine Oberfläche auf einem Display hier, der Mensch als Ganzes dort. Gespräche kosten allerdings Zeit, Nerven, Engagement. Wer aber hätte je behauptet, dass Zivilgesellschaft eine einfache Sache wäre?

 

Am Ende einer intensiven, inhaltsstarken Debatte fällt es Valeska Huber zu, das Schlusswort zu formulieren. Die demokratische Öffentlichkeit als Forum, das bleibt eine Gestaltungsaufgabe, immer wieder. Die Herausforderung jetzt ist es, den Wandel der Öffentlichkeit anzunehmen – es sind nicht mehr die Leitmedien des 20. Jahrhunderts, die den Diskurs steuern und ermöglichen – es ist ein techniklastiges, privat betriebenes weltumspannendes Netz. Diese Aufgabe, die Gestaltung der Öffentlichkeit, braucht die Verbindung von Theorie und Praxis und permanente Lernprozesse.

 

Dafür steht als Impulsgeber Timothy Garton Ash, der Intellektuelle, der die Idee der deliberativen Demokratie ganz im Sinne von Ralf Dahrendorf (und just 20 Jahre, nachdem dieser den Theodor-Heuss-Preis erhielt) weiterdenkt. Dafür steht ebenso Marcus da Gloria Martins, der „robuste Zivilität“, gesteckt in die Uniform einer Sicherheitsbehörde, im Alltag beweist – seine Behörde geht auf die Menschen zu (Stichwort: „responsiveness“), ohne den Kampf gegen Dangerous Speech zu vergessen. Auch die drei weiteren Medaillenträger, die nicht am Kolloquium teilnehmen können, sind solche Praktiker der „Anerkennung im Streit“: Dunja Hayali, die Fernsehmoderatorin, die sich in die Auseinandersetzung mit Pegida und AfD begibt; Patrick Dahlemann, der sich als junger Politiker in Mecklenburg-Vorpommern den Rechten in den Weg stellt; und ganz besonders die Schriftstellerin Asli Erdogan, die in der Türkei unter noch sehr viel widrigeren Umständen die Redefreiheit gegen ein autoritäres Regime hochhält. Vor dem Hintergrund eines durch und durch erhellenden Kolloquiums am Vortag der Preisverleihung leuchtet das Tableau der Ausgezeichneten im Jahr 2017.

 

Rupprecht Podszun