Demokratie und Rechtsstaat
Einführungsvortrag
Prof. Dr. Gesine Schwan, Vorsitzende des Kuratoriums der Theodor Heuss Stiftung,
anlässlich der Kooperationstagung der Theodor Heuss Stiftung und der Evangelischen Akademie Tutzing „Demokratie und Rechtsstaat. Herausforderungen und Perspektiven“ am 4. Oktober 2024 in Tutzing.
Weitere Informationen und Vortragsmanuskripte zum Nachlesen finden Sie hier:
https://www.ev-akademie-tutzing.de/unter-druck-aber-wehrhaft/
Demokratie und Rechtsstaat: Gegensatz oder zwei Seiten einer Medaille?
Demokratie und Rechtsstaat – das Thema klingt banal, aber es hat es, wie wir sehen werden, in sich!
Im bundesdeutschen Verfassungsverständnis und im Alltagsdenken vieler Deutscher gehören Demokratie und Rechtsstaat einfach zusammen wie zwei Seiten einer Medaille: Am Grundgesetz orientiert, verstehen wir uns in Deutschland als liberale Demokratie und zugleich als liberalen Rechtsstaat. Aber ab da gehen die Unterschiede schon los. Denn dieses Verständnis wird nicht nur zunehmend in Frage gestellt, vor allem von der AfD und ihren Unterstützern. Die Beziehung ist auch weniger einfach und eindeutig, als wir zunächst denken.
I. Verständnisse von Demokratie
Wertfreie Definition möglich?
Um ganz brav und ordentlich zu beginnen: Was heißt genauer „Demokratie“? Hier gibt es erwartungsgemäß eine Reihe von Definitionen und in der Wissenschaft zwei grundsätzlich verschiedene Denkrichtungen. In einer kann und muss man Demokratie „wertfrei“ definieren anhand von „formalen“ Kriterien, die sich auf Institutionen und Prozesse beziehen. In der anderen kann man sie gar nicht wertfrei definieren, sondern muss sie von grundlegenden Werten ableiten, wenn sie nicht als leere Hülle pervertiert werden soll. Ich hänge, zur Transparenz, der zweiten Position an.
Gemäß dem sog. „wertfreien“, formalen Verständnis ist Demokratie ein politisches Herrschaftssystem, in dem das souveräne „Volk“ seine Herrschaft in formal bestimmbaren Gewalten, Institutionen und Prozessen ausübt, und zwar in folgenden drei „Gewalten“: der Legislative (dem Parlament), die die Gesetze erlässt, der Exekutive (der Regierung), die die Gesetze ausführt, und der Judikative, die über die legale Angemessenheit von politischen, aber auch privaten Entscheidungen und Handlungen richtet. Diese drei Gewalten sollen – hier ist die Verbindung zum Rechtsstaat – voneinander unabhängig sein, um jede Machtballung zu verhindern. Die Institutionen werden über freie, gleiche und geheime Wahlen besetzt, und Entscheidungen werden per Mehrheit getroffen.
Das ist holzschnittartig formuliert und muss im Einzelnen genauer bestimmt werden. Dabei stellt sich dann schnell die Frage, ob nicht auch in der scheinbar formalen holzschnittartigen Definition schon Werte involviert sind, die sowohl der Begründung der Institutionen dienen als auch z.B. Mehrheitsentscheidungen Grenzen setzen.
Ist die Gewaltenteilung wertfrei?
Um gleich eine zentrale Frage des Demokratieaufbaus anzugehen, die Demokratie und Rechtsstaat betrifft: Warum brauchen Demokratien eine Gewaltenteilung? Könnten die vom Volk gewählten – also demokratisch legitimierten – Abgeordneten mit einer ihnen untergeordneten Exekutive nicht viel wirksamer politisch gestalten und regieren, wenn ihnen keine Gerichte im Wege stünden, die gegebenenfalls unabhängig von gewählten Politikerinnen und Politikern die Gesetzmäßigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen überprüfen, vielleicht sogar verwerfen und die Entscheidungen stoppen könnten?
Diese Möglichkeiten einer unabhängigen Judikatur, die gemäß der Gewaltenteilung ein zentrales Merkmal sowohl der liberalen Demokratie als auch des Rechtsstaats ausmachen, werden z.B. von den Vertretern der sog. illiberalen Demokratie, also etwa von Viktor Orban oder der polnischen Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwosc, Recht und Gerechtigkeit) abgelehnt, weil sie die Entscheidungen des „Volkes“, und damit die Demokratie schwächen. Beide machen ein Spannungsverhältnis zwischen dem liberalen Rechtsstaat einerseits und der Demokratie andererseits aus und sehen in den Recht sprechenden Richtern, die sich gegen Parlaments- oder auch Regierungsentscheidungen stellen können, eine soziale Gruppe oder Kaste, die den Interessen des Volkes entgegenhandelt oder die zumindest einen legitim politischen Konflikt neutralisiert, d.h. entpolitisiert. (Tendenziell ist das auch die Position von Philip Manow in seinem neuen Buch „Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“, ed.suhrkamp, Berlin 2024)
„Volk“- im Singular! – wird dabei oft implizit oder auch explizit als sozial und interessenmäßig homogen begriffen und in dieser Lesart legitim durch die Mehrheit im Parlament repräsentiert. Gegenüber dieser Mehrheit haben nicht nur „neutrale“ Gerichte, sondern auch politische Minderheiten keine Chancen und aus dieser Sicht auch kein Recht, ihren Vorstellungen Geltung zu verschaffen.
Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaat
Damit verweisen die Vertreter der „illiberalen“ Demokratie auf ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaat, das auch die liberale rechtsstaatliche Demokratie kennt, das sie aber anders bewertet und auch anders regelt. Rechtssprüche in Bezug auf politische Entscheidungen sollen sich zwar im liberalen Verständnis nur nach den vorhandenen gesetzlichen Regelungen richten und sich politisch zurückhalten (judicial restraint), aber es gibt immer richterliche Ermessensspielräume – und infolgedessen auch oft gerichtliche Mehrheits- und Minderheitsvoten –, in die allgemeine politische oder persönliche Einschätzungen der Richter einfließen.
Das ist besonders auffällig beim Bundesverfassungsgericht, aber gilt auch für alle anderen Gerichte. Deshalb ist die personelle Besetzung der Gerichte hochpolitisch: „Illiberale“ Demokraten unterwerfen sie der Regierungsmehrheit – so spektakulär die PiS-Regierung -, die das ganze Besetzungsverfahren nach ihrem Regierungsantritt umgekrempelt hat. Aber auch Donald Trump hat bei seinen letzten drei Richterernennungen für den Supreme Court nach dieser illiberalen Linie gehandelt. Mit ihnen wollte er keine „unparteiischen“ Richter ernennen, sondern solche, die seine politische Agenda, z.B. beim Abtreibungsrecht, unterstützen.
„Liberale“ Politikerinnen und Politiker sind auch immer in der Versuchung, mit den Gerichten Politik zu machen oder sich auch vor unpopulären politischen Entscheidungen zu drücken, indem sie sie zur Überprüfung an die Gerichte geben. Angesichts dieser Versuchungen bemühen sich liberale Verfassungen zur Unterstützung der richterlichen Unabhängigkeit um Regeln der Besetzung, die überparteilich „einvernehmlich“ geschehen sollen, um so wenig wie möglich richterlichen „Partikularinteressen“ Raum zu geben. „Wasserdichte“ Reglungen gibt es dafür allerdings nicht.
Hier ist spätestens die Stelle, die zeigt, dass die eingangs genannte Möglichkeit, Demokratie rein formal bzw. „wertfrei“ zu definieren, einer Selbsttäuschung unterliegt. Denn im genannten Fall der Richterbestimmung müssen wir uns entscheiden, was uns bei der Gestalt der Demokratie wichtiger ist: Die Durchsetzung einer politischen Mehrheitsmeinung gegen unabhängige richterliche Überprüfung ohne Rücksicht auf die Minderheitsposition oder der Schutz der Minderheit mit dem Risiko, dass politische Entscheidungen durch Richter verzögert oder sogar blockiert werden können. Beide Möglichkeiten beruhen auf Wertungen. Rein formale Definitionskriterien der Demokratie geben dafür keine Weichenstellung vor.
Begründungen für Gewaltenteilung oder für „illiberale“ Demokratie
Die Entscheidung in diesem Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaat greift ihrerseits bewusst oder unbewusst auf Begründungen zurück, die um des Erhalts der innergesellschaftlichen Kommunikation und des Zusammenhalts willen explizit gemacht werden müssen. Sonst münden sie in eine zerklüftete Gesellschaft oder bedienen Vorurteile.
Die liberale Demokratie und mit ihr der liberale Rechtsstaat gehen in ihrer Entscheidung von einem Menschenbild aus, dem zumindest zwei Prämissen zugrunde liegen:
Sie nehmen an, dass ungehinderte Macht, die keiner unabhängigen Kontrolle unterliegt, Menschen ganz allgemein korrumpiert und zu ungerechten Entscheidungen führt, weil politische Funktionsträger auf diese Weise ihnen genehme politische Entscheidungen „kaufen“ oder erpressen wollen. Das muss prinzipiell verhindert werden. Sie glauben auf der anderen Seite, dass Menschen genügend Vernunftbegabung und gemeinsame Interessen haben, um sich zu verständigen, dauerhafte Blockaden zu verhindern und notwendige – auch verändernde – politische Gestaltungen oder Reformen zu bewerkstelligen.
Ein wichtiger theoretischer Ahnherr der Gewaltenteilung ist der Franzose Charles die Montesquieu. In seinem Hauptwerk „Über den Geist der Gesetze“, in der Mitte des 18. Jahrhunderts erschienen, begründet er die Notwendigkeit der Gewaltenteilung, damit, dass Bürger für den Gebrauch ihrer politischen Freiheit (wir würden heute vielleicht sagen für ihre politische Teilhabe) die Sicherheit brauchen, dafür vom Staat nicht willkürlich verfolgt zu werden. Diese psychologische Sicherheit verlangt, dass „die Macht der Macht Grenzen setzt“ (que le pouvoir arrete le pouvoir), dass es kein zentralistisches Durchstarten von Seiten derer geben kann, die die politische Macht innehaben.
(„Demokratie und Aristokratie sind nicht von Natur aus freie Staatsformen. Freiheit ist nur unter maßvollen Regierungen anzutreffen. Eine Erfahrung lehrt, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu neigt, sie zu missbrauchen. Deshalb ist es nötig, dass die Macht der Macht Grenzen setzt. Es gibt in jedem Staat dreierlei Vollmacht: die gesetzgebende Gewalt, die vollziehende und die richterliche. Es gibt keine Freiheit, wenn diese nicht voneinander getrennt sind.“(Buch XI, Kap 6)
Die Gegenposition der durch Mehrheiten legitimierten Machtkumulation, wie Viktor Orban und Jaroslaw Kaczynski, aber auch der aktuelle polnische Staatspräsident Duda sie vertreten, teilt diese Prämissen nicht und hält die eigenen inhaltlichen politischen Ziele für so wichtig, dass sie die oben genannten Risiken in Kauf nimmt. Oft werden als politische Ziele herausragende kollektive, vor allem nationale Ziele angeführt, die gegen innere und äußere Feinde mit Mehrheit durchgesetzt werden müssen. Daher hat diese Position oft eine Affinität zu extremen ideologischen Einstellungen etwa zu einem ungebremsten Nationalismus; oder zu einem radikalen Sozialismus/Kommunismus, wie Lenin ihn vertrat. Oft wird die Gegnerschaft gegen die Gewaltenteilung aber auch einfach durch den Wunsch motiviert, die Macht in den eigenen Händen zu konzentrieren und nicht mehr herzugeben.
Im Übrigen geht die Politik illiberaler Demokraten bisher immer einher mit der Einschränkung der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, was ebenfalle der ungestörten Durchsetzung der eigenen politischen Position und der Erhaltung der dafür notwendigen Macht dient.
Demokratie nicht rein formal definierbar und angewiesen auf politische Kultur
Über die bisher vorgeführte demokratietheoretische und demokratiepolitische Kontroverse hinaus wird deutlich: Demokratie ist kein nur formal institutionelles und prozedurales Herrschaftssystem. Darüber hinaus ist sie immer auch geprägt von der politischen Kultur, von den Werten und Einstellungen der so demokratisch regierten Gesellschaft und ihrer Funktionsträger.
Eine liberale Demokratie und der dazugehörige Rechtsstaat können daher ihre Aufgabe einer kontrollierten Machtausübung, die gleichwohl politische Gestaltung ermöglicht, nur erfüllen, wenn sie in einer Gesellschaft praktiziert werden, die die Grundwerte der Verständigung, der Fairness, der Gerechtigkeit, der Mäßigung (z.B. im Gegensetz zu hemmungslosen Verhetzungen) und des Respekts für die Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger will und verinnerlicht hat.
In einer sozial und wertmäßig zerrissenen Gesellschaft führen die Mechanismen der Gewaltenteilung dagegen häufig zu Blockaden, die die Effektivität einer Politik und deren Autorität unterminiert und damit leicht die Legitimität des gesamten demokratischen Systems. Denn Bürgerinnen und Bürger erwarten von gewählten Regierungen, dass sie Lösungen liefern, und kümmern sich in der Regel nicht darum, ob die Gesellschaft ein lösungsorientiertes Regieren belohnt oder überhaupt zulässt. Sie fühlen sich dafür in der Regel nicht verantwortlich. Das ist ein gravierendes Problem. Dabei ist es immer leichter, gesellschaftliche Spaltungen zu vergrößern als sie durch Kompromisse zu überbrücken. Das ist keine theoretisch abstrakte Beobachtung, sondern eine sehr aktuelle und ziemlich brisante.
Umgekehrt verlangt eine sog. „illiberale“ Demokratie, dass die Bürgerschaft wie die Funktionsträger sog. Narrativen der Exekutive und Legislative an der Macht unkritisch folgen und sich ihnen unterwerfen, was als kulturelle Grundbedingung eine generelle Gehorsams- oder Mitläuferbereitschaft der Gesellschaft nach sich zieht. Die ist für eine liberale Demokratie verbunden mit einem liberalen Rechtsstaat gerade Gift, der seinerseits auf starke eigenständige und selbständig denkende wie handelnde Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist, um seinen Werten gemäß zu funktionieren.
Sind Russland und China Demokratien?
Der Vollständigkeit der Argumentation halber sei angefügt, dass auch autokratische Staaten wie Russland und China für sich die Bezeichnung Demokratie in Anspruch nehmen, die, wie sie unterstreichen, jeweils kulturell unterschiedliche Ausprägungen habe und keineswegs nur als liberale im politischen „Westen“ beheimatet sei (vgl. gemeinsame Erklärung Putin/ Chi jinping, Februar 2022). Nicht zufällig lehnen diese scheinbar nur anders ausgestalteten Demokratien allerdings das Prinzip der Gewaltenteilung für ihren Staatsaufbau ab. Es würde der Vorherrschaft der Chinesischen Kommunistischen Partei wie dem zentralistischen Aufbau des russischen Herrschaftssystems unter Putin entgegenstehen.
So sind wir nach dieser ersten Überlegung in Bezug auf die Bestimmung der Demokratie zu dem Ergebnis gekommen, dass jede Demokratiedefinition zumindest implizit von Wertpräferenzen ausgeht, die offengelegt werden müssen, wenn man das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat klären will. Es gibt kein „neutrales“ Demokratieverständnis ohne Wertebezug. Und Demokratie heißt nicht einfach, dass die Mehrheit entscheidet, erst recht nicht, dass die Regierungen sich nach den jeweiligen Umfragen richten müssen. Und eine demokratische Wahl legitimiert Politiker nicht zu Entscheidungen, die der gleichen Würde aller Menschen widersprechen.
Das Demokratieverständnis des GG ist wertebezogen
Das liberale Demokratieverständnis, wie es dem GG zugrunde liegt, ist nämlich eindeutig wertebezogen. Das zeigt sich gleich mit dem Paukenschlag des Artikel 1 nach dem „Die Würde des Menschen…unantastbar“ ist, es setzt sich in den Grundrechtsartikeln fort und in den Verfassungsprinzipien, vor allem des Artikel 20, nach denen die „Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ ist.
Die Werte folgen den Menschen- und Bürgerrechten wie sie vielfach – nach dem Zweiten Weltkrieg prägnant in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen – niedergelegt worden sind, auch im Rahmen der Europäischen Union.
II. Bestimmungen des liberalen Rechtsstaats
Im Laufe der Bestimmung von Demokratie als politischer Herrschaftsordnung, die von einem spezifischen Menschenbild und von daraus folgenden Wertvorstellungen ausgeht, haben wir gesehen, dass die liberale Demokratie und der Rechtsstaat gemeinsame normative Wurzeln haben. Ihr Grundversprechen liegt darin, dass allen Menschen ein gleiches Recht auf persönliche und politische Freiheit und die dazu erforderliche Sicherheit vor Willkür zukommen. Die persönlichen Menschen- und Bürgerrechte abzusichern, ist die Aufgabe des Rechtsstaats, historisch zunächst gegen die Willkür eines monarchischen Obrigkeitsstaats, später gegen Versuchungen zum staatlichen Machtmissbrauch auch in einer Republik. Inzwischen geht es auch gegen privaten/gesellschaftlichen/wirtschaftlichen Machtmissbrauch.
Historischer Rückblick
Im historischen Rückblick war der Rechtsstaat in Deutschland, im Unterschied zu England und Frankreich zunächst nicht an die politische Form der Demokratie oder der Republik gebunden. Preußen war ein monarchischer Rechtsstaat. Aus welchem Grundsatz bzw. Recht der Rechtsstaat sich legitimieren sollte, war – und ist – historisch und theoretisch umstritten. Naturrecht, unterschiedliche rechtsphilosophische Begründungen wie die von Immanuel Kant, auch positivistische Positionen der Rechtslehre etwa in der Weimarer Republik stritten miteinander. Als definierender Gegenbegriff (definitio est negatio) schälte sich im 18. Jahrhundert der „Polizeystaat“ heraus.
Im 19. Jahrhundert wurde der Rechtsstaat zunehmend als Verfassungsstaat begriffen. Er sollte auf Mäßigung zielen und Bürgerfreiheit, überhaupt die Grund- und Menschenrechte unterstützen und sichern. Ja, sogar das Recht auf kommunale Selbstverwaltung, das heute wieder hoch aktuell ist, gehörte zu seinen zentralen Schutzaufgaben, um das Recht auf politische Partizipation zu stärken. Zur Unterstützung der Gesetzesförmigkeit staatlichen Handelns wurde eine Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt.
Das Rechtsstaatsverständnis des GG knüpft an diese Entwicklung an. Definitorische Grundregel des Rechtsstaats ist heute, dass alle politische Macht sich an Gesetze halten muss und dass alle Menschen vor dem Recht gleich sind. Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus konnte das Rechtsstaatprinzip des GG nicht rein positivistisch formuliert werden. Stattdessen gilt die Bindung der staatlichen Gewalt an überpositives Recht durch die Grundrechte, das Übermaßverbot und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
III. Gefährdungen der Verbindung von Demokratie und Rechtsstaat durch liberale Politik
In den Überlegungen zum Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat haben wir bisher die Gefährdung durch die strategische Politik in Ungarn und Polen zugunsten der sog. illiberalen Demokratie besprochen.
Den Erhalt der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland, aber auch in den anderen europäischen Staaten und in der EU, also in den sog. liberalen Demokratien, bedrohen freilich nicht nur diese illiberalen Entwicklungen in den mittelosteuropäischen Staaten; auch nicht nur politische Strategien illiberaler, z.T. völkischer bzw. rechtsextremer Parteien innerhalb liberaler Demokratien. Wie ihnen praktisch begegnet werden soll und vor welchen Hürden z.B. die polnische Regierung steht, wenn sie ihrem Wählerauftrag gemäß zurück steuern will zum liberalen Rechtsstaat, werden wir auf der Tagung morgen und übermorgen noch besprechen.
Es gibt aber weitere Gefährdungen der Verbindung von Demokratie und Rechtsstaat. Sie entstehen durch verantwortungslose Meinungsmache und Politik auch von Politikerinnen und Politiker sowie von Medien in liberalen Demokratien. In den letzten Jahrzehnten haben Globalisierung und Migration Herausforderungen mit sich gebracht, auf die die Regierungen der liberalen Demokratien inzwischen zunehmend mit der Umdeutung des Rechtsstaates, ja auch mit seiner Missachtung reagieren: vom Schutz der Freiheitsrechte der Bürger zugunsten ihrer Sicherheit hin zu einem möglichst uneingeschränkten staatlichen Gewaltmonopol, das sich durch rechtliche Bindungen nicht mehr mäßigen lassen will. Diese Befreiung von rechtsstaatlichen Bindungen soll paradoxerweise ebenfalls der Sicherheit dienen.
In der europäischen und damit auch der deutschen Migrationspolitik werden gegen alle Proklamationen zugunsten der Menschenrechte die Grund- und Menschenrechte praktisch, wo sie für die Nationalstaaten unbequem werden, zunehmend verletzt. Die Bindung an das individuelle Recht auf Asyl und an diesbezügliche völkerrechtliche Verpflichtungen werden nicht nur von der AfD, sondern auch aus Teilen der Union direkt infrage gestellt. Demnach sei das individuelle Recht auf Asyl nicht mehr zeitgemäß und sollte durch staatlich zugelassene Flüchtlings-Kontingente abgelöst werden. Damit wäre der individuelle Asylschutz abgeschafft.
Schauplatz Migrationspolitik
Zur praktischen Abkehr von den Verpflichtungen auf die Menschenrechte und von den Bindungen an das Völkerrecht gehören weiter Verletzungen beider Rechte wie push-backs an den europäischen Außengrenzen, die inzwischen gewohnheitsmäßig stattfinden und hingenommenen werden. Die Menschenrechte aller Menschen mutieren dabei zu Rechten der Angehörigen des eigenen Staates bzw. z.T. eines völkisch imaginierten Staatsvolkes, der Inländer gegen die Ausländer. Sinngemäß ist so nicht mehr die Würde des Menschen schlechthin, sondern mehr und mehr die Würde des deutschen – französischen, niederländischen oder dänischen – Menschen unantastbar.
Da der Kern unserer Rechtsstaatlichkeit darin liegt, die Bürgerinnen und Bürger in ihren Rechten gegen staatliche Willkür zu schützen, ist die Kontrolle über die Einhaltung der Gesetze und der internationalen Verpflichtungen zur Wahrung der Menschenrechte in der Asyl- und Flüchtlingspolitik damit inzwischen zum zentralen Schauplatz des Spannungsverhältnisses zwischen Demokratie und Rechtsstaat in der liberalen Politik geworden. Die daraus folgende Verunsicherung, die erhebliche europa- und geopolitische Folgen nach sich zieht, halte ich gegenwärtig für die größte Gefährdung der liberalen rechtsstaatlichen Demokratie. Denn sie macht die Doppelzüngigkeit und die Unglaubwürdigkeit ebenso wie den Rechtsbruch liberaler Demokratien zur Gewohnheit und zerstört das Vertrauen in demokratische Politik, innen und außen. Dabei gibt es dafür keinen Zwang in der Sache.
Vielmehr befeuert ein z.T. skrupellos ausgetragener und von Medien befeuerter parteipolitischer Wettkampf um politische Macht, insbesondere in Zeiten von Wahlen eine Dynamik der verbalen Radikalisierung und der hysterischen Reaktion von Opposition und Regierung, die quasi tägliche Brüche des Völkerrechts und Rechtsungehorsam zur Folge hat.
Dazu gehören die bereits erwähnten Pushbacks an den Europäischen Außengrenzen, z.B. von griechischen Patrouillen gegenüber Flüchtlingsschiffen, die aus der Türkei kommen, mit der stillschweigenden Zustimmung von Frontex; dazu gehört das Aufgreifen von Flüchtenden durch sog. sichere Drittstaaten wie Tunesien, mit denen die EU Unterstützungsabkommen gegen Migranten abgeschlossen hat, die in der Folge Flüchtende am Zugang zur EU hindern sollen. Die Partnerregierungen setzen sie vor den Augen der Welt, also mit Wissen der EU und der europäischen Staaten in der Wüste ohne Wasser und Brot aus und lassen sie umkommen; dazu gehört das Einsperren von Geflüchteten in libyschen Lagern, in denen sie gequält und vergewaltigt werden.
Skrupelloser Wettlauf um politische Macht
In den aktuellen migrationspolitischen Meinungsaufputschungen des Wettlaufs um Macht in Deutschland sind Teile der Gesellschaft, der Medien und der handelnden Politikerinnen und Politiker dabei nicht nur blind gegenüber den Rechtsverletzungen, sondern auch gegenüber der Wirklichkeit und den wohlverstandenen Interessen Deutschlands. Das kann man an der Reaktion auf das Attentat in Solingen im Mai 2024 erkennen. Einflussreiche Teile von Politik und Medien konzentrieren sich öffentlich aufwändig auf die Erweiterung von Abschiebungsmöglichkeiten, vor allem von Straftätern nach Afghanistan. Dass der Attentäter von Solingen nicht abgeschoben wurde, hat sein Verbrechen in Deutschland ermöglicht. Dass intensive Abschiebungen von Straftätern in Zukunft gegen terroristische Gewalt schützen, kann man trotzdem aus Solingen nicht schließen, denn der Attentäter war vor dem Attentat kein Straftäter. Stattdessen ginge es um eine sehr viel genauere kriminalistische Kenntnis der islamistischen Szene, die eine schwierige und intelligente Vertrauensarbeit der Sicherheitskräfte erfordert.
Die unüberlegten Reaktionen der neuen Grenzkontrollen schaffen zudem erheblichen innereuropäischen Unfrieden. Unter dem Druck von AfD und Union verstößt die Bundesregierung durch die Einführung von regulären Grenzkontrollen an den deutschen Außengrenzen nun gegen den Geist von Schengen und verärgert unsere europäischen Nachbarn, auf die wir für eine konstruktive Europapolitik dringend angewiesen sind. Die Regierung lässt sich von der Opposition vor sich hertreiben und verspricht, wie Kopfjäger Asylbewerber an der deutschen Außengrenze aufzuspüren, de sich schon woanders beworben haben, um sie in die europäischen Nachbarländer zurückzuweisen.
Dabei wissen wir seit Jahren, wie ungerecht und unsolidarisch das zugrundeliegende Dublin-Abkommen ist, das die Aufnahme von Geflüchteten im Prinzip nur den Ländern an der EU-Außengrenze zuweist und Deutschland theoretisch davon befreit. Es hat deshalb nie funktioniert und sorgt seit Jahren für innereuropäischen Streit, der durch das neue europäische Asylabkommen vermutlich auch nicht behoben werden wird, weil es keine neuen Anreize zur Aufnahme setzt. Wenn Deutschland hier aus innenpolitischen Gründen mutwillig Unfrieden sät, handelt es gegen seine eigenen langfristigen Interessen. Die neuen Grenzkontrollen haben keine stichhaltige Begründung, stellen also einen (Tabu-)Bruch in der Europapolitik dar. Regierung und Opposition (einschließlich der damit eingemeindeten AfD) suggerieren „Notlagen“ durch die ankommenden Flüchtlinge, obwohl deren Zahl seit 2022 deutlich zurückgeht.
(Laut ntv vom 14.9. 2024 10.54 Uhr „kamen knapp 115.000 Flüchtlinge und Migranten in diesem Jahr unerlaubt über die Mittelmeer-Routen oder über den Atlantik in die Europäische Union. Das entspricht weniger als 0,03 Prozent der EU-Bevölkerung. Im Vergleichszeitraum 2023 waren es den Daten zufolge 176.252 Menschen, also ca. 60 000 mehr. Und 2015, während der großen Fluchtbewegungen vor allem wegen des Kriegs in Syrien, kamen mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder in die EU.
Den Trend spiegeln auch die Daten der EU-Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex wider: Demnach gingen illegale Grenzübertritte über die südlichen Grenzen Europas in diesem Jahr im Vergleich zu 2023 um 39 Prozent zurück. ‚Die Notlage ist in diesem Jahr keine zahlenmäßige‘, sagt IOM-Sprecher Flavio de Giacomo.‘ Und sie war es auch im vergangenen Jahr nicht.“ International Organization for Migration)
Hier verletzen Opposition und Regierung in Deutschland ihre rechtsstaatliche Verantwortung für Augenmaß, Verhältnismäßigkeit der Politik und Realitätstüchtigkeit.
Damit einher geht eine weitere strategische Unterminierung der Rechtsstaatlichkeit in unseren liberalen Demokratien. Da unter den Migranten, die zu uns kommen oder die schon bei uns leben, immer wieder Mitglieder terroristischer z.B. islamistischer Vereinigungen mit mörderischen Attacken, wie der in Solingen, Unglück und Unsicherheit verbreiten, sind die Sicherheitskräfte verständlicherweise erheblich herausgefordert. Dabei stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln man am ehesten Gefährder erkennt, die oft als „Schläfer“ ein völlig unauffälliges Leben führen.
Die Versuchung der staatlich Verantwortlichen besteht darin, anstatt so subtil und auch international vernetzt wie möglich kriminologisch relevante Informationen zu sammeln und rechtsstaatlich präventiv zu handeln, auf summarische rhetorische Abschreckung zu setzen und zum Beispiel „mit der ganzen Härte des Rechtsstaats“ zu drohen. Damit wird der Rechtsstaat in ein irreführendes verbales Umfeld verpflanzt. Gemeint ist damit wohl eher ein fesselloses Gewaltmonopol des Staates und dessen mögliche Unerbittlichkeit zu propagieren. (Vgl. Maximilian Pichl, Law statt Order, Der Kampf um den Rechtsstaat, suhrkamp Berlin 2024, S. 65 ff.) Solche Formeln, die fast automatisch auf jeden terroristischen Angriff folgen, legen nahe, dass die Bürgerinnen und Bürger sicherer sind, wenn der Staat möglichst ungehemmt „zugreifen“ kann. Das ist ein Rückschritt vom schützenden und sichernden Rechtsstaat zum drohenden bzw. abschreckenden Polizeistaat des 18. Jahrhunderts.
IV. Fazit
Zeiten von Krisen und Kriegen befördern Autoritarismus und den Rückgriff auf Gewalt. Diese Spirale der Gewalt dreht sich seit einiger Zeit überall bedrohlich. Sie durch kompetente und beharrliche Konfliktlösungen zu bremsen, ist eine schwierige Aufgabe. Wenn wir die Energie und Beharrlichkeit dazu jedoch nicht aufbringen, werden wir die rechtsstaatliche Demokratie in einem schleichenden Prozess verlieren. Unsere Verpflichtung gegenüber Demokratie und Rechtsstaat ist, das klar zu sehen und dementsprechend zu handeln.