Preisträger 2017

Timothy Garton Ash

Historiker und Publizist

Immer der Freiheit auf der Spur

 

Einer der seltenen, aber so notwendigen Grenzgänger in einer immer komplexeren Welt: Das ist zweifellos der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash. Und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Da ist einmal die Art, mit der er mühelos den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Publizistik zu bewältigen weiß, eine Eigenschaft, die im Gegensatz zu den amerikanischen Geistesdisziplinen in Deutschland nicht häufig anzutreffen ist. Seine beachtliche essayistische Kunst erleichtert ihm gewiss diese Leistung. Er zählt, seit den Hochzeiten des Kalten Krieges und dessen langsamer, aber unaufhörlicher Zersetzung in den Achtziger Jahren, zu den kenntnisreichsten Pendlern zwischen Ost und West. Aufgrund seiner ausgiebigen Erkundungen und bedachten Reflexion vermochte er die stärker werdenden antagonistischen Strukturen innerhalb des sozialistischen Systems in Mittel- und Osteuropa für die Leser diesseits des Eisernen Vorhangs zu entschlüsseln und zu deuten. Schließlich ist er ein Intellektueller, der den historischen Prozess mit seinen vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen nicht unter einem einzigen fixen Aspekt beurteilt, sondern unter der Abwägung von Fortschritten wie Rückschlägen, Erfolgen wie Verlusten, Chancen wie Risiken. Das allerdings mit einem unbeirrbaren Maßstab, nämlich der ihm eigenen ausgeprägten Liberalität.

 

Eine besondere Affinität zu Deutschland, früh ausgelöst durch die Poetik und Sprachbrillanz von Thomas Mann, macht Garton Ash zudem zu einem engagierten und pragmatischen Vermittler zwischen den widerstreitenden, teilweise sogar feindseligen Positionen und Stimmungen, denen die Bundesrepublik  zunehmend in Europa begegnet, auch im Kreis der EU-Staaten. So betrachtet der »englische Europäer«, wie er sich selbst einmal bezeichnete, die Flüchtlingspolitik Angela Merkels positiv, »weil sie an einer Vision von Europa festhalten will, an einem Europa, das im Prinzip offen ist und solidarisch «. Zugleich verteidigt er die Sicherung der Außengrenzen dieses Kontinents, da dies »eine Vorbedingung für das Fortbestehen liberaler Gesellschaften« sei.

 

Im langwierigen Verfahren des Brexit, den der Historiker von den Briten nicht erwartet hätte, sind solche Fähigkeiten eines ausgleichenden Dazwischen dringend vonnöten. In der Ausrichtung des Denken von Ash besteht jedoch seit Jahrzehnten eine unübersehbare Kontinuität, und diese heißt: Freiheit. Dies ist zwar ein Begriff in vieler Munde, aber ebenso oft auch ambivalent benutzt, mal konstitutiv-unbestreitbar, mal regressiv-regelbar.

 

Dass Freiheit in Europa längst nicht mehr zu den unumstößlichen Selbstgewissheiten zu rechnen ist, räumt er freimütig ein: »Wir erleben mehrere Aufstände gegen die liberale Demokratie, ja gegen den Liberalismus«, hieß es in einem seiner Interviews. Dabei zitiert er populistische Bewegungen von links, wie in Griechenland und Spanien, ebenso von rechts, in Frankreich, Ungarn und Polen. Deutschland erfährt diese Kritik an der Demokratie inzwischen
ebenfalls.

 

Wie sehr seine politisch-historischen Überlegungen um den Gedanken der Freiheit kreisen, lässt sich an vielen Titeln seiner Bücher ablesen. Denn mehrfach taucht der Ausdruck dort plakativ auf. So in »Zeit der Freiheit«, einer Bilanz aus den Zentren Mitteleuropas ein Jahrzehnt nach den revolutionären Umbrüchen im Osten. Oder »Freie Welt«, eine Darstellung des Zwiespalts zwischen Amerika und Europa zu Beginn dieses Jahrhunderts. Zuletzt mit dem Buch »Redefreiheit«, in dem die Möglichkeiten und Grenzen weltweiter Digitalisierung erörtert werden. Aber auch in anderen Schriften, etwa in der kühl-kritischen Analyse der deutschen Ostpolitik »Im Namen Europas« oder in »Die Akte Romeo«, die seine StasiÜberwachung in der DDR zum Inhalt hat, ist die Freiheitsthematik stets präsent. Seine Liebe zur Freiheit kann auch pathetisch werden: »Wenn wir frei sind, können wir mit anderen freien Menschen auf eine freie Welt hinarbeiten. Nichts kann uns aufhalten, es sei denn die Mauern der Ignoranz, des Egoismus und der Vorurteile, die freie Menschen untereinander und Freie von Unfreien trennen.«

 

Bekannt wurde Garton Ash 1990 mit einem Werk, das geradezu eine programmatische Aussage vermittelte: »Ein Jahrhundert wird abgewählt«. Es ist die Summierung seiner Eindrücke und  Einblicke, die der Historiker in den achtziger Jahren in den mitteleuropäischen Zentren Warschau, Budapest, Prag und Berlin sammeln konnte, eben die lähmendlange, doch beständig weiter wuchernde Inkubationsphase der friedlichen und »samtenen« Revolutionen, die die kommunistischen Systeme zuletzt in erstaunlicher Schnelligkeit hinwegfegten. Dieses Buch ist voll von Geschichten um jene mutigen unverzagten Oppositionsgruppen und ihren Milieus, die die kommunistischen Regime zu Fall brachten, aber es ist auch selbst Geschichte. Die persönliche Nähe zu führenden Protagonisten der Bürgerrechtsbewegungen, etwa zu Adam Michnik in Polen und Vaclav Havel in der  Tschechoslowakei, machen diese Reportagen zu einer wahrhaft historischen Dokumentation über den Weg des Wandels in den mittel-osteuropäischen Ländern vom Sozialismus zur Demokratie.

 

Dabei hatte der kontinentalorientierte Engländer bereits reichlich Berührung mit dem kommunistischen Alltag besessen, als dieser Bestseller erschien. Nach dem Studium der Geschichtswissenschaft an der traditionsreichen Universität Oxford ging er, 1955 in London geboren, Anfang der achtziger Jahre nach Berlin, um im West- wie im Ostteil der Stadt wissenschaftliche Forschungen für seine Doktorarbeit »Berlin and the Nazis« zu betreiben. Doch schon bald verlagerte sich sein Interesse auf die Gegenwart, und statt dem Verhalten der Deutschen unter der Diktatur Hitlers nachzugehen, beschäftigte er sich intensiv mit der SED-Diktatur unter Honecker. »Und willst du nicht mein Bruder sein…« lautete 1981 sein Report über die damalige DDR. Die Darstellung traf auf erhebliches Missfallen der SED-Oberen, sodass sie schließlich für den Autor ein Einreiseverbot für die sozialistische DDR verhängten. Doch Garton Ash hatte sein Thema gefunden: die Emanzipation der Moskauer Satellitenstaaten von den Einschränkungen der Freiheit durch die rote Ideologie. Am Ende stand, wie er meint, ein europäisches 9/11, nämlich der 9. November 1989 mit dem Fall der Mauer in Berlin, der »unsere Gegenwart immer noch grundlegender als der Fall der  Zwillingstürme in New York« verändert habe. Eine rege publizistische Tätigkeit über viele Jahre für renommierte internationale Medien wie Spectator, Times, Guardian, New York Review, Washington Post belegt geradezu diesen Lebensabschnitt des fleißigen Fachmanns.

 

War Garton Ash, der seit 1990 eine Professur für Europäische Geschichte in Oxford bekleidet, aber auch an der namhaften amerikanischen Universität Stanford lehrt, lange diesen Umbrüchen auf der Spur, so verfolgt er seit einigen Jahren mit dezidierter Emphase einen anderen Transformationsprozess, wie sein jüngstes Werk »Redefreiheit« beweist. Seit 2012 leitet der Wissenschaftler in Oxford die Internetplattform freespeechdebate.com, über die er weltweit einen Diskurs über die bisherigen Konsequenzen der Digitalisierung in Gang setzte. Es wurde ein bislang einmaliges polyglottes Forschungsprojekt. Mit einer Gruppe von Studenten, aber auch mit eigenen Vorträgen von Kairo bis Peking, von New York bis Istanbul stellte er seine Vorschläge und Thesen öffentlich zur Diskussion. Dieser Aufwand entsprang der Idee, dass heute alle Menschen durch das Internet gleichsam Nachbarn geworden sind, in Kosmopolis oder global village, wie immer man es formulieren will.
Die Freiheit des offenen Wortes ist für den diesjährigen Theodor Heuss Preisträger das Grundrecht demokratischer Verfassung schlechthin, und für jedermann wird heute offensichtlich, dass autoritäre und populistische Politiker mit Attacken auf die Rede- und Meinungsfreiheit ihre demagogischen Repressionskampagnen gegen die Grundrechte intensivieren – wie in unterschiedlicher Ausprägung Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan und Donald Trump zeigen. Deshalb spricht Garton Ash ausdrücklich von einem »Kampf um die Wortmacht«, der sich im Zuge von Digitalisierung und Internet entwickelt und abläuft. Dafür benutzt er ein sehr plastisches Bild, nämlich das von Hunden, Katzen und Mäusen.

 

Die Hunde sind für ihn die wenigen großen Staaten, die USA und China, ebenso die EU, die Regeln und Gesetze erlassen können; die Katzen bilden die gigantischen Medienkonglomerate Microsoft, Apple, Amazon, Google, Facebook, Twitter, YouTube. Und die Mäuse sind die Kunden, die nicht abzuschätzen wissen und kontrollieren können, was die Hunde und die Katzen mit Big Data anstellen. Wobei der Primat eindeutig bei den Medienkonzernen liegt, die längst »private Supermächte« darstellen,keineswegs sozial orientiert, sondern konsequent profitgetrieben.
Dennoch verfällt der Gesellschaftsanalytiker Garton Ash nicht in jenen kulturpessimistischen Tenor, wie er allenthalben über die modernen Kommunikationstechnologien und deren schier grenzenlos erscheinende Potentiale häufig angeschlagen wird. Für ihn stellt das Internet auch ein Produkt radikaler Meinungsfreiheit dar. Deshalb geht es dem ausgewiesenen Kenner historischer Abläufe darum, wie unter den heutigen Bedingungen die liberale Idee der freien Rede und Meinung aufrechterhalten werden kann. Er entwirft daher »Prinzipien für eine vernetzte Welt«, so der Untertitel seines letzten Werks, und dies macht die umfassende Bestandsaufnahme zu einem beachtenswerten Navigationsmittel durch die Online-Welt.

 

Seine zehn Thesen reichen von freier Meinungsäußerung für alle Menschen, ohne Drohung mit Gewalt und Einschüchterung, offener und robuster Zivilität für alle Arten von Unterschieden zwischen Menschen, Schutz der Privatsphäre und Abwehr von illegitimen Eingriffen durch öffentliche und private Mächte bis hin zu eigenen Entscheidungen mit den Konsequenzen für diese Verantwortung.

 

Und wo bleiben da die Mäuse? Garton Ash sieht sie keineswegs so schwach gegenüber den egoistisch agierenden großen Tieren. Denn die Nutzer des Internets verfügen, bei allen Bedrohungen und Nachteilen, doch über ein ordentliches Stück Macht, nämlich durch ihre Klicks, »weil wir mit der Maus abstimmen können«, glaubt der Historiker. Wie nützlich und hilfreich da ein verbindlicher liberaler Kodex für das offene Wort und die freie Meinung wirkt, zeigen jene massiven Beschädigungen, die Donald Trump mit seinen abstrusen Attacken auf die »Redefreiheit« sogar der amerikanischen Demokratie zufügt. Dieses Beispiel zeigt: In der vernetzten Welt müssen die Mäuse überall und beständig aktiv bleiben.

 

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

Aslı Erdoğan

Schreiben und Leiden im Fegefeuer

 

„Und einmal sah ich einen Regenbogen.“ Was wie ein Satz der Freude und der Beglückung klingt, eben als ein seliges, verheißungsvolles Symbol nach einem beängstigenden Gewitter, ist in Wirklichkeit ein tiefer Hilferuf aus Verlassenheit und Verzweiflung. Die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan machte diese sehnsüchtige Aussage, als sie ihre Situation während der Haft im Istanbuler Frauengefängnis Bakirköy schilderte: Der Blick aus ihrer Zelle auf einen kleinen Hof mit Drahtdach und dem tristen vergitterten Trakt gegenüber. Doch auch, nach oben, ein winziges Stück Himmel, über den tagsüber Vögel hinwegziehen, manchmal nachts der Mond. Und einmal eben das Hoffnungszeichen des Regenbogens.

 

Die Literatin Asli Erdogan ist in den letzten Monaten zu einem der prominentesten Opfer der dramatischen und drastischen Veränderungen sowie Umwälzungen geworden, die das Land am Bosporus gegenwärtig durchmacht: nämlich die Suspendierung der demokratisch-säkularen Strukturen zugunsten eines autoritär-zynischen Präsidialregimes. Nach dem gescheiterten Militärputsch am 15. Juli 2016 wanderten bereits 40.000 Menschen in Lager und Gefängnisse. Darunter über 150 Journalisten. Am 15. August 2016 holte die Polizei auch Asli Erdogan in ihrer Istanbuler Wohnung ab. Ihre Festnahme lag in der manischen Verfolgungslogik des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, in dessen Fokus – neben den Anhängern der Gülen-Bewegung – die Repräsentanten der kurdischen Minderheit stehen, weil ihnen eine zu große Nähe zur gewalttätigen Untergrundorganisation PKK unterstellt wird.

 

Die „Tat“ der Schriftstellerin bestand nur darin, dass sie – neben ihren poetischen Werken – scharfsinnige Kolumnen für kritische Presseorgane schrieb, zunächst für die linksliberale Tageszeitung „Radikal“, dann für das kurdische Blatt „Özgür Gündem“. Nach dem Putschversuch wurde das Journal verboten und 24 Mitarbeiter verhaftet. Darunter Asli Erdogan, obwohl sie der kurdischen Volksgruppe nicht angehört. Und so entsprechen die Beschuldigungen gegen sie auch ganz dem Tenor, mit dem jetzt Kurden immer wieder hinter Gittern gebracht werden; ihnen folglich auch der Prozess gemacht wird: Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation, Propaganda für eine Terrorgruppe sowie der Versuch der Zerstörung der staatlichen Einheit. Ähnliche Vorwürfe werden übrigens auch dem festgesetzten „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel gemacht, was in Deutschland eine Welle der Empörung auslöste. Die fraglichen Straftatbestände können in der Türkei des gnadenlosen Gebieters von Ankara immerhin lebenslange Haft nach sich ziehen.

 

Aber es sind wohl eher die Themen, die die Schreiberin Erdogan stets in ihren Artikeln aufgriff und die die türkischen Verfolgungsbehörden veranlassten, an ihr ein abschreckendes Exempel zu statuieren: Menschenrechte und die Lage von Minderheiten, Folter und die Bedingungen in den Gefängnissen, Gewalt und die Benachteiligung von Frauen. Dazu hat sie immer eine mahnende Stimme erhoben. Deshalb soll sie wohl zum Schweigen gebracht werden. Viereinhalb Monate musste sie bereits eingekerkert verbringen, und dass sie zu Beginn ihres Prozesses vorläufig aus der Haft entlassen wurde, ist nur auf ihren angegriffenen Gesundheitszustand zurückzuführen. Aber es bedeutet für sie eine physisch wie psychisch enorm anstrengende Hängepartie. Denn noch steht ihr der Gerichtsprozess bevor.

 

Dieses Schicksal zwischen Treibjagd und Verfemung hat sich inzwischen ganz vor das Dasein und Schaffen dieser Literatin geschoben. Die studierte Physikerin, 1967 in Istanbul geboren, gab nach wenigen Jahren ihre wissenschaftliche Karriere auf, um sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Allerdings trugen wohl auch intuitive Erfahrungen dazu bei, einen solchen Wechsel zu vollziehen. Denn über ihre Tätigkeit am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf hat sie bilanziert: „Man kommt dorthin, erwartet lauter Einsteins und Heisenbergs – und was man findet, sind Geschäftsleute und Politiker, jegliche Art von fiesen Tricks, Leute, die sich gegenseitig die Karriere absägen, Daten stehlen; es war hart.“

 

Vor solch bedrückenden Szenarien wich Asli Erdogan aus in die Sphäre der Literatur. Dabei formuliert sie nie mit leichter Hand, sondern sie begibt sich wieder und wieder auf die Suche nach dem eigenen Ich. Ihre Bücher pendeln zwischen genauen Beobachtungen und inneren Monologen, zwischen der Existenz in der Fremde und den Möglichkeiten einer adäquaten Individualität, sie taucht in andere Welten ein und reflektiert sie vor dem Hintergrund der türkischen Gesellschaft. Dies dokumentieren anschaulich ihre beiden Romane, mit denen sie im deutschsprachigen Raum bekannt wurde, „Der wundersame Mandarin“, in Genf angesiedelt, „Die Stadt mit der roten Pelerine“ mit dem Handlungsort Rio de Janeiro. Für den Roman „Steingebäude“ erhielt sie 2010 die bedeutendste Literaturauszeichnung der Türkei, den Sait-Faik-Preis.

 

„Meine Werke wirken wie im Fegefeuer geschrieben“, hat sie einmal gesagt. „Die Grenzen zwischen beiden Seiten – nicht zwischen Himmel und Hölle, eher zwischen dem Nichts und der Zeit – sind klar und scharf gezogen.“ Immer wieder hat die nun von der Heuss Stiftung Ausgezeichnete versucht, sich dem Druck und den Spannungen in der Heimat zu entziehen, eben durch längere Aufenthalte im Ausland. So zwei Jahre in Brasilien, dann als Gastautorin in Zürich, Graz und Krakau, auch zeitweise in Deutschland. Doch stets kehrte sie, obwohl längst bedroht und gefährdet, in die Türkei zurück, aus menschlichen und solidarischen Erwägungen.

 

„Nichts ist mehr wie vorher. Aber es ist noch zu früh zu sagen, was ich gewonnen habe und was verloren“, erklärte sie kurz nach der Freilassung aus der Untersuchungshaft. Fest steht, dass ihre labile Gesundheit hinter den Gefängnismauern weiter gelitten hat. Dass die feinnervige Autorin die  Quälerei und die Depressionen überhaupt bewältigen konnte, verdankt sie zwei Dutzend robusten kurdischen Frauen, erklärte Sympathisanten der PKK, zu denen sie in die Zelle gesteckt wurde. „Ich war zerbrochen, sie fügten mich wieder zusammen.“ Dieser Aufenthalt in einem realen Fegefeuer wird gewiss Spuren im Denken und Schreiben der Verfolgten hinterlassen.

 

„Bitte vergesst mich nicht. Und meine Bücher. Es sind meine Kinder“, appellierte die Literatin in einem Brief, der im letzten Jahr aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt wurde. Inzwischen setzten sich weltweit Intellektuelle mit einer Solidaritätskampagne für sie ein. „Wohin treibt dieses Land bloß?“, äußerte sie neulich über die Türkei in einem Interview. Es ist inzwischen eine eindringliche Gewissensfrage an jedwede liberale Öffentlichkeit, gerade in Deutschland mit seinen historischen Erfahrungen. Das weitere Schicksal von Asli Erdogan wird deshalb zum beachtenswerten Prüfstein.

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

Patrick Dahlemann

Die Leidenschaft des Einzelkämpfers

 

Ganz hinten, in der östlichsten Ecke der Republik, gleich danach beginnt Polen, versucht ein politischer Jungspund im Land Mecklenburg-Vorpommern einen Paradigmenwechsel. „In der Schule haben wir immer gesagt bekommen, kriegt gute Noten, geht in den Westen, geht dahin, wo ihr Geld verdienen könnt. Das kann es doch nicht sein, dass man jungen Leuten erklärt, sie sollten die Region verlassen“, so beschreibt Patrick Dahlemann sein Schlüsselerlebnis. Deshalb entschied er sich früh für die Politik. „Wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, dann muss man sie ändern.“ Deshalb trat er bereits mit 16 Jahren der SPD bei, damals das jüngste Mitglied im Kreisverband. 2009, gerade einmal 21 Jahre, war er bei der Kommunalwahl schon Spitzenkandidat der Sozialdemokraten für den Kreistag Uecker-Randow; gleichzeitig gelangte er damals auch in die politische Repräsentanz seiner Heimatstadt Torgelow. 2011 verpasste er nur knapp den Einzug in den Landtag, als Nachrücker schaffte er es jedoch 2014 in das Schweriner Parlament. Bei der Landtagswahl 2016 gelang dem Newcomer dann ein kleines Wunder: Er nahm im Wahlkreis Vorpommern-Greifswald IV das Mandat der CDU ab, die dort seit der Wiedervereinigung 1990 beständig gesiegt hatte. Zudem ist es der einzige rote Flecken in der ganzen Region, ringsherum zeichnet sich das politische Farbenbild blau eingefärbt: Die AfD hat heftig zugeschlagen.

 

Die Belohnung ließ nicht lange auf sich warten. Unmittelbar nach der Landtagswahl ernannte Ministerpräsident Erwin Sellering die sozialdemokratische Nachwuchshoffnung zum Parlamentarischen Staatssekretär für Vorpommern, eine im föderalen Gefüge der Bundesrepublik wohl einmalige Position. Von Anklam aus, wo ihm ein kleines Büro eingerichtet wurde, soll Dahlemann die Region beackern. Die inzwischen wieder herausputzte alte Hanse-Stadt in der Nähe der Peene-Mündung, oft als Tor zur beliebten Ostseeinsel Usedom bezeichnet, plackt sich mit zwei Problematiken ab, die für das östliche Bundesland kennzeichnend sind: die Demographie und der Rechtsextremismus. Denn Anklam verlor beispielsweise seit 1990 etwa ein Drittel seiner Einwohnerschaft, die von rund 20.000 auf etwa 13.000 fiel. Und die Stadt gilt als Hochburg der Neonazis. Bei der letzten Kommunalwahl lag die NPD fast gleichauf mit der SPD, nämlich bei knapp über neun Prozent. Allerdings hatten die Sozialdemokraten die Nase hauchdünn vorn. Zwar gelang es 2016, die Neonazis aus dem Landtag zu kippen. Dafür erreichte jedoch die AfD auf Anhieb 20,8 Prozent und wurde damit zur zweistärksten Fraktion im Parlament.

 

Die Verhältnisse sind keineswegs so, dass Patrick Dahlemann auf einfache und angenehme Vorgaben für seine Aufgaben als Staatssekretär trifft. Aber er ist, wie seine politische Laufbahn beweist, nicht der Typ, der vor solchen Unbequemlichkeiten und Beschwernissen einknickt, gar kapituliert. Wenn der Soziologe Max Weber bei der Typologie von Politikern davon gesprochen hat, dass die einen von der Politik und die anderen für die Politik leben, dann ist Dahlemann zur Letzteren zu zählen. „Ich mache dies mit großer Leidenschaft,“ sagt er von sich. Er hat sich voll und ganz dieser Aufgabe verschrieben, sogar in einem Ausmaß und mit einem Zeitaufwand, dass er seine Hochschulausbildung arg schleifen ließ und von seiner Heimatuniversität Greifswald zum Fernstudium nach Hagen wechseln musste – was ihm seine Gegner gelegentlich gerne vorhalten.

 

Dafür konnte Dahlemann jedoch in seinem Umfeld genügend Erfolgserkenntnisse gewinnen. Denn er entwickelt für sich das Politikerprofil des „Kümmerers“: „Die Arbeit mit den Menschen ist sehr wichtig im Grundverständnis eines Abgeordneten. Den Satz «Dafür bin ich nicht zuständig», darf es im Büro eines Politikers nicht geben. Wir müssen zu den zuständigen Ebenen vermitteln, ob in ein Fachministerium, ob zum Bürgermeister, ob zum Landrat, ob zum Gemeindevertreter: Das ist unser Job.“ So findet bei ihm der vernachlässigte Sportverein ebenso Gehör wie die verzweifelte Familie. Und wenn größere Projekte anstehen, etwa der Bau einer Straße oder eines Windparks, Pläne, die häufig Bürger auf die Barrikaden bringen, dann holt er eben die politisch Verantwortlichen zu Treffen vor Ort. Bei Wahlkämpfen tingelt er selbst über die kleinsten Dörfer, vor denen sich viele andere Kandidaten bei ihren Kampagnen wegducken. Damit hat er sich und seiner Partei bewiesen, dass man auch in scheinbar aussichtsloser Lage siegen kann. Dass solcherlei Aktivismus jedoch nicht auf aller Wohlwollen trifft, zumal nicht in einer rechtslastigen Gegend, hat sich Dahlemann ebenfalls mitgeteilt: Sein Auto wurde beschädigt, die Scheiben seines Wahlkreisbüros in Torgelow eingeworfen, Anschläge mit Buttersäure verübt.

 

Dass der SPD-Vormann – und darin liegt wohl ein Geheimnis seines rasanten Aufstiegs – sich etwas zutraut, hat er nachdrücklich im Juli 2013 bewiesen. Das Vabanquespiel hätte für den 25jährigen leicht daneben gehen können; denn die Kräfte waren ungleich verteilt. Die NPD hatte damals, wie es bei ihr Usus ist, eine größere Protestkundgebung gegen ein Asylbewerberheim in Torgelow organisiert. Unters Publikum mischte sich auch der junge SPD-Aktivist, um mit der Verteilung von Handzetteln eine Gegenstimmung zu den fremdenfeindlichen Parolen der Neonazis zu erzeugen. Als ihn der Redner, NPD-Landeschef Stefan Köster, unter den Zuhörern entdeckte, muss den lautstarken Funktionär der Hochmut geritten haben. Denn er forderte Dahlemann auf, wenn er denn Mumm habe, solle er ans Mikrofon treten, er werde ihm etwas von seiner Redezeit abzweigen. In Sekundenschnelle ergriff der Sozialdemokrat die Chance, er redete mehrere Minuten auf die Menschen ein und appellierte an die Menschlichkeit. Mit Charme und Chuzpe: „Wir haben Müllsäcke für die Leute mitgebracht, die Nazi-Pamphlete entsorgen wollen.“ Zunächst stellt die NPD in vermessener Selbstüberschätzung das Video ins Netz, und als sie es zurückzieht, besorgt Dahlemann die digitale Verbreitung selbst. Es bringt ihn schlagartig in die Öffentlichkeit, weit über seine Region hinaus.

 

Der Jungpolitiker, stets in korrekter Kleidung und mit routinierter Sprache, weiß, dass ihm diese Szene immer wieder Türen öffnet, markiert es doch ein Musterbeispiel demokratischer Gesinnung, die Anerkennung findet. Aber ihm ist auch bewusst, dass er allein darauf seinen persönlichen Dauererfolg nicht abstellen kann. Sondern dass es darauf ankommen wird, was er in seiner Region zu bewegen vermag. Aber: „Ich kann nur versprechen, was ich umsetzen kann. Wenn man mit starken Wunschvorstellungen konfrontiert wird, muss man sagen, das geht nicht, das werden wir nicht schaffen.“ Als Staatssekretär vor Ort in einem problematischen Landstrich und mit beständigem Blick auf die harten Realitäten wird er die Mühen dieser Ebene sicherlich sattsam erfahren. Aber ihn treibt ja seine Leidenschaft.

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

Marcus da Gloria Martins

Mediator mit Geschick für die Medien

 

Er ist das „neue Gesicht“ der Polizei: Marcus da Gloria Martins. So wenigstens wird der Pressesprecher der Münchner Polizeidirektion seit einiger Zeit in den Medien immer wieder bezeichnet. Dabei ist der Anlass, durch den er zu einem solch anerkennenden Attribut kam, keineswegs ein erfreuliches Ereignis gewesen. Es war nämlich der schreckliche Amoklauf eines verwirrten deutsch-iranischen Jünglings, der – gerade 18 Jahre alt – am Abend des 22. Juli 2016 das Olympia-Einkaufzentrum überfiel und mit seiner Flinte neun Menschen erschoss, bevor er sich selbst mit der Waffe richtete. Die bayerische Landeshauptstadt geriet nach diesem tragischen Zwischenfall in einen Ausnahmezustand, befürchtete man doch zuerst einen Terroranschlag durch mehrere Personen nach dem Muster von Paris: Der Hauptbahnhof wurde gesperrt, der Nahverkehr eingestellt, die Menschen auf den Straßen gewarnt, sich schnellstens in Sicherheit zu bringen. Als dann noch Nachrichten kursierten, vor allem über diverse soziale Medien, auch am Hofbräuhaus und am Stachus seien Schüsse gefallen, drohte die Panik in der Stadt geradezu außer Kontrolle zu geraten. Ein Gerüchtekordon legte sich über München, der Großeinsatz der Sicherheitskräfte mit Sirenen und Blaulicht verstärkte die beklommenen Gefühle und vermeintlichen Wahrnehmungen einer mörderischen Gefahrenlage.

 

In einer solch unübersichtlichen und angsterfüllten Situation die Nerven und den Überblick nicht zu verlieren, gegenüber der Öffentlichkeit Besonnenheit und Souveränität zu wahren, ist wohl eine bemerkenswerte Leistung. In derart hektischen Stunden in der Isarmetropole hat Marcus da Gloria Martins diese Herausforderung meistern können. Mit seinen klaren Aussagen und seiner festen Stimme hat er sicherlich wesentlich dazu beigetragen, die aufgeladene Stimmung merklich zu deeskalieren, indem er die tatsächlichen Abläufe nüchtern zu präsentieren wusste. Was dabei aufhorchen ließ, waren der Ton und die Sprache, die so gar nicht in das bekannte Raster beamtisch-pedantischer und verbal-verschleiernder Verlautbarungen passten. Was dabei auch auffiel, war die Ernsthaftigkeit um genaue Information. So antwortete da Gloria Martins beispielsweise einem Journalisten, von denen sich ja viele bei dem anfänglichen Münchner Wirrwarr in spekulativer Hybris ergingen, auf eine Frage in deutlicher Distanz: „Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich da raten müsste. Und das wäre hochgradig unseriös.“ Eine so offene Einlassung aus dem Munde eines amtlichen Pressesprechers ist höchst respektabel. Da zeigt sich wirklich das neue Gesicht. Und dem nimmt man ab, dass er in jedem Fall immer glaubwürdig bleiben will – die wohl komplizierteste Tugend in seiner Doppelrolle.

 

Aber Martins denkt seine Arbeit als Verbindungsglied zwischen einem Behördenapparat und der Öffentlichkeit wirklich neu, sowohl intellektuell als auch praktisch. Er ist sich bewusst, dass er als Polizeisprecher stets einen Balanceakt zu vollziehen hat, nach innen und außen. Er weiß, dass seine 6.800 Münchner Kolleginnen und Kollegen „in unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten unterwegs sind“, wie er sich ausdrückt, sich dabei jedoch in der medialen Darstellung schlecht wiederfinden. Deshalb hat er bei seinen Leuten viel Überzeugungsarbeit zu leisten über die heutigen Kommunikationsmechanismen. Erleichtert werde ihm diese Aufgabe, sagt er, „weil ich einen wunderbaren Überblick habe. Ich besitze eine Tellerrand-Orientierung von 360 Grad“. Zugleich muss er als Behördenvertreter den Informationsbedürfnissen der Öffentlichkeit gerecht werden, und da haben sich die Standards inzwischen enorm verändert. Aber was heißt hier schon Öffentlichkeit? Die Hauptakteure, mit denen Polizeimann Martins zu tun hat, sind die Journalisten. Aus diesem Kreis erhält er das meiste Feedback. Und hier, so weiß er hinreichend aus Erfahrung, ist der Spagat noch einigermaßen komplizierter. Denn es geht um die Frage, wie unter den Konkurrenzverhältnissen der heutigen Medienwelt der Journalismus seiner Funktion als Verantwortungsträger (noch) gerecht werden kann. Da wird eine charakterfeste Haltung in der Berichterstattung schnell brüchig. Das geschieht vor allem „in dem Moment, wo ich einen hohen Nachrichtenumsatz in einer dramatischen Einsatzlage habe. Dann glaubt sich am besten das Medium, das das Exklusivbanner irgendwo in der Schlagzeile hat“, weiß der langgediente Polizist. Diese Beobachtung gilt für den Amoklauf im Münchner Olympia-Einkaufszentrum ebenso wie für den Terroranschlag kurz vor Weihnachten am Breitscheidplatz in Berlin. „Dann habe ich wieder eine große Anzahl von Redaktionen, die ganz schnell den Revolver in der Hand haben und schießen.“

 

Gegen solche Unwägbarkeiten versucht sich die Münchner Polizei abzusichern, indem sie – durch Initiative des frisch-gekürten Heuss-Medaillenträgers Martins – einen eigenen Kanal in den sozialen Netzwerken betreibt. Auf diese Weise gelingt es, sowohl eine längere Erklärung abzusetzen als auch einen kurzen Tweet, um damit unmittelbar die Bevölkerung zu erreichen und zu unterrichten. „So haben wir die Möglichkeit, direkt mit der Öffentlichkeit zu sprechen. Und das funktioniert immer besser.“ Hier gäbe es nämlich endlich die elektronische Informationsbroschüre, die gelesen werde, meint der Initiator. Und dies könne ein Korrektiv über das fiktionale Bild der Polizei liefern, das vor allem in TV-Unterhaltungsformaten und Dokutainment-Beiträgen serviert werde. Das gedruckte Exemplar habe früher lustlos herumgelegen, mit einer schönen Staub-Patina. Auch mit Info-Ständen, beispielsweise auf Stadtfesten, habe man nur einen Bruchteil derer erreicht, wie nunmehr über die digitalen Netzwerke. „Das ist ein ganz wesentlicher Baustein unserer Strategie in der Öffentlichkeitsarbeit.“ Allerdings habe man vorher die Lage in München genau spezifiziert, die Zielgruppe, die Qualität, die Empathiestufe: „Man muss da wahnsinnig vorsichtig sein, das ist nicht als Blueprint für andere zu sehen.“ Ohne vorherigen nachhaltigen Analyseaufwand könne ein solcher Kommunikationsweg leicht zu einem „kapitalen Rohrkrepierer“ werden.

 

Bei dem jetzt 43jährigen Beamten, in Hürth bei Köln geboren und mit portugiesischem Familienhintergrund, schlägt bei dieser imponierenden Eloquenz durch, dass er die Polizei in verschiedenen Facetten kennengelernt hat, als Streifenkollege ebenso wie als Verkehrskommissar. Nicht zuletzt qualifizierte er sich durch ein Hochschulstudium für höhere Aufgaben. Gerne hätte er sich, so gesteht er, nach dem Abitur der Geschichtswissenschaft gewidmet. Aber ein Einstellungsberater in der Nachbarschaft lotste ihn zu den staatlichen Schutzleuten. „Das hat ganz gut geklappt.“ Der Rheinländer, der mit seiner Frau bewusst nach Bayern wechselte, braucht da nicht einmal auf sein geliebtes Kölsch zu verzichten. „Die Versorgung ist sehr gut.“ Und was will er seinen beiden Töchtern mitgeben? „Soziale Kompetenz und kritisches Denken.“ Die Bestimmtheit der Antwort lässt keinen Zweifel aufkommen, dass dieser Mediator es ernst meint.

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

Dunja Hayali

Eine beherzte Sprache zeigt Wirkung

 

Gesicht zu zeigen, ist für eine Fernsehmoderatorin eine alltägliche Wirklichkeit, zudem ein wichtiger Bestandteil für die Akzeptanz und die Wirkung ihres Auftritts: Wie sie ihre Texte vorträgt und wie sie die Fragen an Interviewpartner richtet, welche Atmosphäre herrscht und welche Haltung überkommt. Dunja Hayali hat darin schon gewohnte Übung, zählt sie doch seit einem Jahrzehnt zum personellen Kernbestand des Moderatorenteams im Zweiten Deutschen Fernsehen, früher beim heute-journal, jetzt beim ZDF-Morgenmagazin. Bereits zu dämmernder Tageszeit fällt ihr da die animierende Aufgabe zu, viele Frühaufsteher, einschließlich der Morgenmuffel, möglichst schwungvoll in ihren gewöhnlichen Rhythmus zu bringen, zwischen heiteren Informationen und reichlich schlechten Nachrichten. Eine sicherlich immer wieder sensible Bemühung.

 

Gesicht zeigen: Das hat aber bei Dunja Hayali noch eine zweite Dimension. Denn sie ist mit ihrem gesellschaftlichen Verständnis eine der rührigsten Unterstützerinnen und bekanntesten Aktivistinnen des Vereins, der dieses Logo demonstrativ in seinem Namen führt. Im Jahr 2000 vom ehemaligen Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye initiiert, will „Gesicht zeigen!“ gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Gewalt ankämpfen – beim Wiedererstarken des Rechtsextremismus in Deutschland ein Gebot der Dringlichkeit. In seinen Reihen hat sich einige Prominenz versammelt wie Iris Berben, Udo Lindenberg, Maybrit Illner, Günter Jauch, Ulrich Wickert, Katja Riemann. Der Verein, dem neben Einzelmitgliedern auch Unternehmen, Kommunen und Verbände angehören, betreibt demokratische Aufklärungsprojekte und politische Bildung, vor allem in Ostdeutschland. Hayali ist für dieses persönliche Engagement inzwischen in der Öffentlichkeit fast ebenso bekannt wie für ihre journalistische Tätigkeit. Die Flüchtlingssituation in Deutschland fordert sie da besonders heraus.

 

Dabei war der Lebensweg für die TV-Frontfrau keineswegs selbstverständlich. Denn sie bezeichnet sich selbst als das „schwarze Schaf“ ihrer Familie, weil sie eine eigenständige Berufswahl traf. Die Tochter irakischer Christen aus Mossul, 1974 in der nördlichen Ruhrgebietsstadt Datteln geboren, ist zuhause von medizinisch ausgebildeten Angehörigen umgeben. Ihr Vater ist Arzt, ebenso wie der ältere Bruder; die Mutter studierte Pharmazie, die ältere Schwester wirkt in der Krankenpflege. Zwar entschloss sich Hayali zunächst zu einem Studium an der Deutschen Sporthochschule Köln. Aber einer der Schwerpunkte lag da bereits auf Medien und Kommunikation. „Ich habe schon als Kind immer gefragt: Warum, warum? Ich bin halt total neugierig. Dabei kann ich meine Neugier immer hinter dem Job verstecken. Ich bin Journalistin und da muss ich fragen!“

 

Es folgte dann die normale Ochsentour. Noch während der akademischen Ausbildung machte sie Praktika bei Radio- und Fernsehsendern. Nach dem Studium dann Sportmoderatorin bei der Deutschen Welle, bei Radio Köln und tv.nrw. 2007 wurde sie vom ZDF geholt, dem sie bis heute die Treue hält. Nicht zuletzt wohl wegen der Tatsache, dass das Morgenmagazin dieses Senders sich live aus Berlin meldet, für ein Liebling Kreuzbergs die ideale Konstellation.

 

Dunja Hayali hat sich selbst einmal, in Umkehrung üblicher Klassifizierungen, als Journalistin mit „Migrationsvordergrund“ bezeichnet. Je mehr sich das Klima in Deutschland aufgrund der Flüchtlingswelle verändert, von der anfänglichen gefälligen Willkommenskultur zur heutigen oft hartleibigen Abriegelungs- und Abschiebungspraxis, bekommt auch die Moderatorin diesen ablehnenden Wechsel zu spüren. Es erreichten sie immer mehr Hassmails, berichtet sie, zuweilen mit vergifteten Aufforderungen ergänzt, das Land möglichst bald zu verlassen. Vieles davon hat sie öffentlich gemacht. „Warum sind einige Menschen so voller Hass? Wie kann ich diese Bürger verstehen?“

 

Um diese Fragen zu ergründen, begab sie sich forschend selbst auf den Weg. 2015 besuchte sie eine AfD-Kundgebung in Erfurt, um Gedankenwelt und Motivation der Sympathisanten zu ergründen. Dabei traf sie auf viel Intransigenz und Aggressivität. Als das Morgenmagazin einen kurzen Beitrag von dieser Visite ausstrahlte, schlug der Journalistin sofort das Killerargument „Lügenpresse“ entgegen, mit dem die Rechtspopulisten eifrig Stimmung gegen kritische Medienberichterstattung machen. Das ZDF stellte daraufhin das gesamte Rohmaterial für einen Kurzfilm ins Netz; 26 Minuten lang konnte jeder die intoleranten und zynischen Parolen dieser „Alternativen“ sehen und hören. Im letzten Jahr wiederholte Hayali die Reise nach Erfurt. Dabei stellte sie fest, dass die Teilnehmerzahl bei den AfD-Demos nur noch etwa ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr betrug. Auch die Menschen, mit denen sie ins Gespräch gekommen sei, hätten „in Teilen eine sehr differenzierte Meinung“ geäußert, so ihr Fazit. In den Interviews mit diesen Parteigängern sei es um vielerlei Ängste gegangen.

 

Den Gedanken griff die Journalistin in ihrer Rede auf, als ihr im letzten Jahr die „Goldene Kamera“ in der Kategorie Beste Information verliehen wurde: „In einem Land, in dem die Meinungsfreiheit so ein hohes Gut ist, darf und muss jeder seine Sorgen und Ängste äußern können, ohne gleich in die rechte Nazi-Ecke gestellt zu werden. Aber: Wenn Sie sich rassistisch äußern, sind Sie verdammt nochmal ein Rassist!“ Ebenso deutlich fielen ihre Worte aus nach dem feigen Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin: „Ihr bescheuerten, ferngesteuerten und hirnlosen Terroristen, egal, wo ihr herkommt, egal, woran ihr glaubt oder was ihr wollt – wir lassen uns unser Leben, unsere Werte, unsere Freiheit, unsere Art zu glauben, zu leben und zu lieben nicht von euch kaputtmachen. Ihr kriegt unsere Verachtung, nicht aber unseren Hass.“

 

Auf die Frage nach ihrem couragierten Selbstbewusstsein und ihrer beherzten Sprache hat die jetzt geehrte Trägerin der Heuss-Medaille eine eindeutige Antwort: „Ich glaube, ich bin mutig, weil ich Dinge ausprobiere. Und wenn da eine Klippe ist und jemand sagt, komm, wir springen da runter, dann bin ich die erste, die springt.“ Kaum vorstellbar, dass sie vorher erst nach einem Netz schaut.

 

Text: Heinz Verfürth und Hans-Peter Föhrding

Anerkennung im Streit - die Idee der demokratischen Öffentlichkeit

Am Freitag, 31. März 2017, fand im Stuttgarter Rathaus das Kolloquium anlässlich der 52. Theodor Heuss Preisverleihung zum Jahresthema  „Anerkennung im Streit – die Idee der demokratischen Öffentlichkeit“ statt.

 

Prof. Dr. Timothy Garton Ash (Director European Studies Centre, St Antony’s College, University of Oxford, Theodor Heuss Preisträger 2017),  Dr. Melanie Amann (Redakteurin im Hauptstadtbüro Der Spiegel) Marcus da Gloria Martins (Pressesprecher der Polizei München, Theodor Heuss Medaille 2017), Patrick Dahlemann (parlamentarischer Staatssekretär für Vorpommern, Theodor Heuss Medaille 2017) und Katharina Nocun (Politikerin, Netzaktivistin, Bloggerin) diskutierten mit den Tagungsteilnehmer*innen über Krisenkommunikation in Zeiten von Twitter, Terror und Trolls.

 

Den inhaltsreichen Bericht über das Kolloquium finden Sie hier:

Kolloquium Theodor Heuss Stiftung 2017,

Bericht Prof. Dr. Rupprecht Podszun

 

 

Timothy Garton Ash

 

Marcus da Gloria Martins, Melanie Amann

 

Valska Huber

 

Isabel Fezer

 

Theodor Heuss Kolloquium 2017

Redner beim Theodor Heuss Kolloquium 2017

Timothy Garton Ash im Gespräch mit Gesine Schwan und Peter Eigen

Ludwig Theodor Heuss

Rupprecht Podszun

Katharina Nocun

 

 

 

Laudatio Roger de Weck

Dankesrede
Preisträger Timothy Garton Ash

Begrüßung Ludwig Theodor Heuss, Vorsitzender der Theodor Heuss Stiftung

Grußwort
Staatsekretärin Petra Olschowski

Grußwort Fritz Kuhn,
Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart

Preisvergabe an Timothy Garton Ash

Podiumsgespräch mit den Medaillenträgern moderiert von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Medaillenvergabe an Dunja Hayali

Medaillenvergabe an Patrick Dahlemann

Medaillenvergabe an
Marcus da Gloria Martins

Schlusswort Gesine Schwan, Kuratoriumsvorsitzende der Theodor Heuss Stiftung

2017